Marcel Raabe

Mythos Mythos Dresden. Anmerkungen zur Anatomie einer Stadt – Teil II: Dérive

I.

Mit Fritz Löffler hat das »alte Dresden« seinen Geschichtsschreiber gefunden, für das »moderne Dresden« muss die Geschichte noch geschrieben werden, und wäre doch, gleich dem Löfflerschen Kompendium, schon eine Geschichte der Verluste.

Am Lingnerplatz, jenseits des ehemaligen Robotron-Geländes, auf dem zur St. Petersburger Straße hin Vinzenz Wanitschkes Beton-Skulpturengruppe Proletarischer Internationalismus eine Skateboardbahn beschattet, befindet sich das Deutsche Hygiene-Museum. Bis vor kurzem wurde es von den »Giraffen« überragt, den irgendwie auch als Dresdner Wahrzeichen geltenden, nun abgerissenen Flutlichtmasten des Dynamo-Stadions.

2006 fand in dem Haus die Ausstellung Mythos Dresden statt, in der man zwischen Mundwasser und Kaffeefiltertüten, »Erfindungen von hier«, den Mythos »Erfinderstadt« ausstellte. Stasi-Videos von 1989er-Demonstrationen zeigten, dass auch das Tal der Ahnungslosen – nicht nur das angeberische Leipzig – Heldenstadt zu sein beansprucht. Unvermittelt tauchte eine der zwei fehlenden Pusteblumen des Brunnens auf der Prager Straße auf. Doch neben aller Schulterklopferei ist endlich auch der Täterstadt ein Raum gewidmet: die Erinnerung an Hakenkreuz-beflaggte Straßenzüge, Rüstungsbetriebe und die Ausstellung Spiegelbilder des Verfalls in der Kunst, die hier 1933 noch vor München als »entartet« diffamierte Kunstwerke ausstellte.

Der Dresdner Großindustrielle und Odol-Hersteller Karl August Lingner stiftete das 1927 bis 1930 errichtete Museum. Baumeister war der wandelbare Wilhelm Kreis, dessen Museumsbau so modern, formenstreng und klar ist, wie seine Bismarcktürme, Typ Götterdämmerung, plump und mittelalterlich. Später wurde Kreis von Hitler mit der Erweiterung der Anlage zum – nie ausgeführten – Gauforum beauftragt. Mit merkwürdigen Verbindungen wie diesen finden sich in diesem Haus – sozusagen unter Putz – die Spuren der Geschichte. Woerl’s Reisehandbuch Dresden aus den 30er Jahren listet auf: »Raum 1: ‚Der Mensch‘ [...] Raum 2: Menschenkunde; Raum 3: Die Frau als Gattin und Mutter; Raum 4: Vererbung und Eugenik; Raum 5: Hygienische Volkserziehung; Raum 6-9: Ernährung.«

Zuletzt wurde das Haus sehr schön saniert und umgebaut unter der Ägide Peter Kulkas. Verloren ging dabei die eindrucksvolle 50er-Jahre-Innenarchitektur des 1957/58 von Alexander Künzer gestalteten Konzertsaals, bis in die 70er Heimstätte der Philharmonie. Unsichtbar, weil eben überpinselt, ist heute das Diplomwandbild von Gerhard Richter, das sich hier befand: Lebensfreude von 1956, lose, ornamental verwobene Figurengruppen: tanzende Kinder, Campingidyll, Badeszenen am See; Liebespärchen, Bäumchen, Friedenstauben; Traktor nicht vergessen.

Gerhard Richter, 1932 in der Stadt geboren, studierte an der Dresdner Kunsthochschule Wandmalerei. 1961 hat er die DDR verlassen und studierte in Düsseldorf noch einmal. Heute gehört er zu den Bedeutendsten und Teuersten der Welt, zuletzt schuf er die neuen Glasfenster des Doms in Köln. Richter ließ mit seiner Flucht sein ganzes frühes Werk zurück und verbrannte abermals im Hof der Düsseldorfer Kunstakademie den Neuanfang. In Dresden malte er drei große Wandbilder, alle drei beseitigt, dieses als letztes 1979, auch im Namen der Denkmalschutzbehörde, übertüncht. Es ist noch da, nur nicht zu sehen. Eine 1994 angedachte Freilegung lehnte Richter ab.

II.

Nordwestlich davon liegt der Pirnaische Platz. Über dieser gigantischsten urbanen, gleichwohl asphaltierten und durchrauschten Brache in der Dresdner Innenstadt erhebt sich seit 1966 das »Appartementhochhaus mit Gaststättenkomplex«. Schon vor der Wende abgeschraubt (vielleicht weil das Sächsische noch aus jedem G ein CH macht), grüßte von dort die leuchtende Beschwörungsformel »DER SOZIALISMUS SIEGT« stadteinwärts in die Thälmann-Straße. Wenn das Licht geeignet fällt und es etwas genieselt hat, sind heute an der alten Stirn noch die Schmutzränder der demontierten Lettern zu entdecken: »ISMUS SIEGT«. Nach dem Säkulum der Ismen, sagt der Giebel, ist es gleich, welcher Ismus recht behält. Postmoderne eben, selbst eintragen bitte.

Das Landhaus gegenüber, barocker Überlebender und Stadtmuseum, fuchtelt seit seiner Sanierung 2006 gänzlich unbarock mit einer exzentrischen Feuertreppe rum (Klinkenbusch + Kunze, Dresden), die Stachel im Fleisch des Dresdner Architekturempfindens ist und gleichzeitig Anlass zu gewisser Schadenfreude. Die »öffentliche Meinung« hat zu Beginn der 90er Jahre den Bildhauer Frank Stella heimgeschickt, weil der auf Einladung des Kölner Stifterehepaares Hoffmann wagte, einen modernen, ähnlich exzentrischen Galeriebau auf dem Gelände der Orangerie schräg gegenüber des Zwingerkomplexes errichten zu wollen. Der Amerikaner Stella, kein Architekt, aber Maler, Bildhauer und Objektkünstler von Weltrang, begab sich zu jener Zeit in die Gefilde der Architektur und bemühte sich um die architektonische Umsetzung seiner abstrakten Formensprache. In Der Herzogin Garten – seit dem Krieg bis heute eine Brache – sollte, wie der Spiegel ’92 schrieb, »eine Ansammlung amorpher Pavillons aus Teflon und Polymerbeton in Technicolor« entstehen. »Postbarocke Napfkuchen und Käseecken« nannten es die Traditionalisten, sahen ihren Zwinger persifliert und liefen, den OB auf ihrer Seite, Sturm. Entnervt von den Debatten zogen sich die Schenker bald zurück – keine Kunsthalle für Dresden. Eine andere Stiftung, um die Kunst in Ostdeutschland bemüht, hat das vorausgesehen und zog – nach Leipzig.

Doch die Landhausfeuertreppe steht und ragt nach Abbau der Gerüste, von denen sie sogleich nicht zu unterscheiden war, wie als Skelett des abgerissenen Landhaus-Ostflügels, welcher einst der schnurgeraden Aufmarschmagistrale Thälmann-Straße weichen musste, auf den Platz. Erst allmählich wurde den Leuten das bewusst: Das soll so sein, das bleibt so – was in den Zeitungen amüsant zu lesen war. Fortan markiert die Landhaustreppe den Zwiespalt zwischen Alt und Neu, zwischen Jagd nach dem verblassten Schattenbild und Sehnsucht nach der Gegenwart in einer Stadt, die ohne diese auszukommen glaubt. Sie steht auch für die streitenden Bürgerinitiativen um Bauwerke, Images und Deutungshoheiten.

III.

Aus dem Riesenraum des Platzes fließt man in die Wilsdruffer, die einstige Ernst-Thälmann-Straße ab, die als Aufmarschgebiet menschlicher Massenornamente von West nach Ost den alten Stadtgrundriss zerschnitt. Die Institutionalisierung arbeiterbewegter Subversion wurde auf Großdemonstrationen zu verordnetem Propagandakitsch und hinterließ in den Städten breite Magistralen – Fragmente vergangener Konzepte »neuer Menschen«. Zum ersten Mai marschierte man auf ihr, allerdings in umgekehrter Richtung, an der Funktionärstribüne vorbei, die dem Kulturpalast gegenüber am Altmarkt stand. Die Straße ist gesäumt von einer erst vor wenigen Jahren sanierten Wohnblockbebauung aus den 50er Jahren, die zugunsten des Neumarktes um ihre langfristige Existenz fürchten muss. Zunächst passiert man das ehemalige ungarische Szeged-Restaurant, in dem zu DDR-Zeiten im Sinne der sozialistischen Völkerverständigung eine ungarische Folklorecombo zum Gulasch spielte. Die Leuchtröhrenreklame, ornamentierte Schrift und einen Koch darstellend, ist seit kurzem weg. Das Konzept dieser »Erlebnisgastronomie« folgte der Völkerverständigungsidee und hatte DDR-weit seine Ableger.

Auf halbem Weg zum Postplatz stößt man auf den Kulturpalast: ein »ostmodernes« Störutensil zwischen »historischem« Neu- und stalinistischem Altmarkt, ein erst 2008 endgültig unter Denkmalschutz gestelltes Fossil einer Epoche, von der man ohne streitlustige Bürgerinitiativen die Stadt längst leichtfertig bereinigt hätte. Das Sockelgeschoss des in Stahlbetonskelettbauweise errichteten Gebäudes ist mit rotem Granit verblendet, die Obergeschosse bestehen aus Aluminium- und Glaselementen, ein reliefiertes Kupferdach schließt nach oben ab. Der Kulturpalast ist einer der drei wichtigsten Solitäre der DDR-Moderne in der Stadt.

Schon seine Entstehungsgeschichte ist eng verwoben mit den Wirrnissen Dresdner Architektur-Befindlichkeiten. Von 1962 bis 1969 gebaut, ging dem modernen, flachen Glasgebäude ein jahrelanger Streit um die Gestaltung des Kulturhauses voraus. In den 50er Jahren sollte die Nordflanke des Altmarktes, den die Aufmarschmagistrale streift, ein über 100 Meter hoher Turm abschließen, dem stalinistisch-sozialistischen Architekturverständnis nach in Anknüpfung an nationale Bautraditionen auszuführen. Außer in Moskau findet sich ein ähnliches Exemplar in Warschau. In Dresden allerdings undenkbar: dem Canalettoblick solch einen Turm hinzuzufügen! Protest erhob sich. Den zunächst nach wie vor unter der Maßgabe des Turmes ausgeschriebenen Wettbewerben zum Trotz erhielt der querschlagende Entwurf eines flachen Glaskastens von Leopold Wiel den Zuspruch, nachdem Gutachter aus der Sowjetunion, denen man das turmlose Modell als Negativbeispiel vorführte, dieses überraschend krönten. So entstand nach Wiels Idee, geplant und ausgeführt von Wolfgang Hänsch, Herbert Löschau, Heinz Zimmermann u.a., der Glas-Beton-Quader mit Kupferdach als ein heute denkmalwertes Beispiel ostdeutscher Nachkriegsmoderne.

Nach der Wende reizte er als solches jedoch wiederum zum Widerspruch. War die stalinistische Postmoderne, die am Altmarkt mit barocker Ornamentik spielt und damit Anknüpfungspunkte an die genuin Dresdner Bautradition schafft, mittlerweile akzeptiert, so gerieten die Vertreter der späteren DDR-Moderne plötzlich unter Legitimationszwang. Um das Jahr 2000 lagen Pläne z.B. von Hans Kollhoff auf dem Tisch, den Kulturpalast in wiederum klassizierender Gestaltung zu umbauen und verkleiden, um ihn weitgehend nahtlos in ein neu zu errichtendes Einkaufszentrum zu versenken. Hierauf regte sich nun abermals Protest, der in der Gründung der Bürgerinitiative Kulturpalast Dresden erhalten! kulminierte.

An der Eingangsfront nach Süden hin illustrieren fünf Bronzetüren von Gerd Jaeger die Stadtgeschichte aus sozialistischer Perspektive. Augenfälliger ist auf der Westseite das Wandbild Weg der roten Fahne von Gerhard Bondzin und Kollektiv. Es versinnbildlicht »die Kämpfe und den Sieg der deutschen Arbeiterklasse«, wie der Tourist Stadtführer-Atlas Dresden 1985 schreibt. Im Baedeker 2000, wo der Kulturpalast nur der Vollständigkeit halber Erwähnung findet, verschweigt man beide Kunstwerke. Bis 2004 waren entsprechend die bemalten Betonplatten des Wandbildes beinahe blickdicht mit einem grünen Netz verhängt, aus Bausicherungsgründen, wie es hieß. Inzwischen hat sich jenseits politischer Positionen langsam ein Bewusstsein für den Wert auch ungeliebter Kunstwerke sowie ein souveränerer Umgang mit ihnen durchgesetzt. Das Netz ist heute transparent, das Bild steht ebenso wie das Gebäude unter Denkmalschutz. Andere Kunstwerke des öffentlichen Raums haben die »damnatio memoriae«, die symbolische Auslöschung von Erinnerung, nicht überlebt.

IV.

Hinter dem Kulturpalast ragt die ob ihrer Neuheit und gewölbten Form merkwürdig zweidimensionale Frauenkirche auf. Der fast noch weiße Stein schneidet seine Ränder scharf in den Himmel und wirkt, weil ungewohnt, wie reingeklebt.

Im Stadtgedächtnis spielt die Kirche zweimal als Schutzstatt eine Rolle. Einmal 1760, als unter preußischer Belagerung deren Kanonenkugeln von der Kuppel abgeglitten seien, und dann – unglücklich – im Februar 1945, als sie zusammenbrach. Der Symbolwert wuchs, seit in den frühen 1980ern die Friedensbewegung jedes Jahr an der zum Mahnmal geweihten Ruine zur Andacht lud und einen dissidentischen Ton in das Gedenken brachte. Mit der Rede Helmut Kohls, der im Dezember ’89 hier »blühende Landschaften« versprach, wurde sie auch für die Wende zum Symbol. Es entspann sich eine Diskussion, ob sie als Mahnmal zu erhalten oder ein kompletter Neuaufbau statthaft sei. Man entschied sich, mit Spendengeldern aus der ganzen Welt und unter Erhalt der originalen Rest-Bausubstanz, für die Rekonstruktion. 2005 fand die Einweihung der neuen Frauenkirche statt, nicht ohne sich vorher im sogenannten »Orgelstreit« über den adäquaten Ersatz der zerstörten Silbermann-Orgel gestritten zu haben.

Die Zeremonie wurde zum nationalen Ereignis stilisiert, und 2006, zusätzlich Jubiläumsjahr der Stadt und Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft, wurde ein fragwürdiger Pathos grenzwertig überstrapaziert. Das ZDF machte mit dem zweiteiligen Zerstörungsepos Dresden, einem der teuersten Fernsehproduktionen bisher und eigentlich nicht viel mehr als eine weit hergeholte Schmonzette über die Affäre einer deutschen Krankenschwester mit einem abgeschossenen englischen Bomberpiloten, die Angelegenheit zum tränentriefenden Event. Ein Jahr zuvor fackelte der Sender dafür Altbauruinen am Neustädter Bahnhof ab, vor dem ebenso wie an der Augustusbrücke gigantische Hakenkreuzfahnen wehten. Ratlose Japaner schossen Urlaubsfotos.

Der Film, der selbsterklärtermaßen durch möglichst authentische Darstellung das Grauen greifbar und erfahrbar machen will, degradierte trotz seiner Bemühungen um Political Correctness die reale Katastrophe zu schlichtem Entertainment. Angesichts inzwischen zahlreicher Filme, mit denen sich eine blankpolierte Ästhetisierung der Geschichte zum selbständigen Genre entwickelt hat, ist dieser Dresden-Film auch Symptom eines Paradigmenwechsels, der zunehmend geschichtsrevisionistische Züge trägt.

V.

Der »Ort«, wenn er real erfahren wurde, bleibt auch dann bestehen, wenn er verschwindet. Zuerst in der Erinnerung, die sich aus physischer Erfahrung speist, in späteren Generationen als überlieferte, sich wandelnde Erzählung, wozu auch dieser Film zu zählen ist. Der einst reale wird zum Nicht-Ort, zum Utopia, das sich fabulierend überliefert. Wenn die reale Rückbindung an den konkreten Ort abhanden kommt, entstehen Mythen. Als solche wirken sie auf die reale Stadt zurück. Man baut sie nach. Zu Frauenkirchenfüßen ist nun der neue Neumarkt weitgehend aufgestellt: steingewordene Erinnerung: ein Rentner-Disneyland. Jahrzehntelang Brache, Weide, Baustelle, Parkplatz; jetzt nagelneu strahlende Cafés und Restaurants, Passagen, Juweliers, Hotels, Kulissen in Pastell, zwischen denen Dresdner und Touristen gleichermaßen staunend auf und nieder schreiten.

Auch auf diesem Platz kämpft eine Bürgerinitiative, die Gesellschaft Historischer Neumarkt, für einen möglichst originalgetreuen Wiederaufbau. Während sie ganz andere Bebauungen abgewendet hat, ist ihr der »historische« Neumarkt nicht historisch genug, der Kompromiss auch mal suspekt. Denn man macht sich gerne vor, dass das ein Wiederaufbau ist, doch die vielen historisierenden Fassaden verbergen zum Teil nur wenige Gebäude. Die nachempfundenen Bauten orientieren sich zudem an verschiedenen Zeitschichten, die teils schon vor dem Krieg nicht mehr existierten. Die Hinterhöfe, Außenklos und stinkenden Kloaken, die vor der Zerstörung dominierten, waren in der Erinnerung schon immer nur das »schöne Dresden«, und »schön« haben es die Investoren hingebaut. Der ganze Platz ist eine historische Erlebnis-Passage, wie sich die Touristen Dresden vorstellen und sich nun bestätigt finden. Kaffee trinken soll man, und/oder Räuchermännchen kaufen. Der Plan, den Platz um ein modernes Gewandhaus zu ergänzen, wurde nach massiven Protesten auf unbestimmte Zeit verschoben und damit eine Chance vertan, das Ensemble irgendwie in dieses Jahrhundert zu holen.

Dabei ist der Platz belebt, er funktioniert, was man von vielen Platzneubauten anderswo so ohne Weiteres nicht behaupten kann. Wenn man dafür die Identität einer vergangenen Epoche simulieren muss, dann ist das vielleicht mehr Zeitzeichen der Gegenwart, als man wahrhaben will. Zudem gibt es auch zeitgenössische Akzente. Historische Fassaden wurden dort nachgestaltet, wo Quellenmaterial sie dokumentierte. Wo es fehlte, baute man moderner. Aus den Fassaden des Neumarktes spricht eine Archivsituation.

Man wird darüber hinaus stets an die Improvisation erinnert werden. Die Anschlussgiebel der realisierten Häuser des Quartiers ragen südwärts als getünchte fensterlose Steilwände gefährlich nah der Wilsdruffer-Straßen-Block-Rückwand zu und warten darauf, dass man diese abreißt. Nicht minder bockig blitzt die frische Farbe von den gerade sanierten 50er-Jahre-Bauten aus dem Schatten der die Schlafzimmer verdunkelnden Neumarkthinterwände. Der Stadtrat hat – glücklicherweise – nach ihrer Sanierung 2003 beschlossen, dass die Blöcke noch mindestens 30 Jahre stehenbleiben. So lange muss der Rand des Neumarkts warten, bis er fertig wird. Zwei nicht zueinander passende Puzzleteile ragen gegeneinander und erinnern daran, wie zerschnitten diese Stadt ist, der man collagenartig neue Reißbrettviertel hineinstückelt; diesmal nicht auf grüner Wiese, sondern zwischenrein. Das Neue (Alte) und das Alte (Neue) verweigern jede Kommunikation, und so steht sich auf unbestimmte Zeit das Nicht-Passende gegenüber und beharrt darauf, dass es so nicht bleiben kann, nicht bleiben wird, in steter Unruhe und Entzündung. Ein architektonisches Erdbebengebiet aufeinanderstoßender Sedimentschichten der Geschichte. Das hat seine eigene Schönheit. Der Idee eines homogenisierten Stadtraums, als konzeptuelle Einheit, harmonisiert und strukturiert, wo alles zueinanderpasst, wohnt ein totalitärer Schrecken inne, ein normativer Ordnungswahn. Die ungeliebten Risse wie hinterm Neumarkt sind dann im positiven Sinne Zeichen des Scheiterns totalitären Anspruchs auf die Stadt.

VI.

Zurück auf der Wilsdruffer Straße steht rechter Hand vom Altmarkt Richtung Postplatz, neben dem Kopfbau des ehemaligen Centrum-/Intecta-Kaufhauses von 1956 (Alexander Künzer), das einstige Kaufhaus Knoop. 1931 errichtet und 1950 wieder aufgebaut, ist der horizontal gegliederte Stahlbetonbau mit langen Fensterbändern das einzige erhaltene Bauwerk der Vorkriegsbebauung in diesem Areal. Der Denkmalschutz für das in Dresden rare Beispiel Neuen Bauens wurde katastrophalerweise kürzlich aufgehoben – fragwürdig, dass das so einfach ging –, so dass es jetzt der Erweiterung der Altmarktgalerie weichen muss, für die vermutlich auch das Intecta-Kaufhaus entkernt werden wird. Ab 2010/11 wird sich die Kaufhauserweiterung von hier bis zum Postplatz erstrecken. Abgesehen davon, dass bei den gegenwärtig in der Innenstadt gebauten und geplanten Kaufhausmonumenten fraglich ist, wer da kaufen und verkaufen soll, spricht aus den bisher kursierenden Entwürfen für dieses Haus ein ausgesprochener Hang zur frühen 90er-Jahre-Architektur, als ob man alte, liegengebliebene Entwürfe in der Schublade gefunden hätte.

Die Innenstadt wird irgendwann ein weitgehend überdachtes Kaufhaus sein, welches den zeitgenössischen Menschentypus formt und fordert: den Konsumenten. Die ihm entsprechende Architektur bildet dann an dieser Stelle den Kontrast zum Menschentypus, den die vorangegangene Ideologie gefordert hat: Der Altmarkt wurde, viel größer als das Original, im Wiederaufbauplan als Massenkundgebungsraum für sogenannte »stehende Demonstrationen« konzipiert. Die ihn rahmende Bebauung aus den 50er Jahren spielte auf nationale, lokale Bautraditionen an, um sich programmgemäß einerseits von westlichen, modernen, internationalen Baustilen abzugrenzen, des Weiteren um eine nationale Kontinuität zu behaupten, die dem politischen Alleinvertretungsanspruch der BRD für ganz Deutschland symbolisch widersprach. Der Altmarkt ist ein Bilderbuch der Ideologiegeschichte.

An dessen Südseite blieb das in den 60er Jahren geplante Haus der Industrie ungebaut. Um der Gigantomanie des Platzes Herr zu werden, baute man nach der Wende ein von Meinhard von Gerkan, Volkwin Marg und Partner entworfenes Bürohaus, weil leere Büroetagen scheinbar leichter zu ertragen sind als unbebauter Raum. Gerkan, Marg und Partner sind Weltstars, bauten den Berliner Hauptbahnhof und die chinesische Retortenstadt Lingang. Doch am Bürohaus Altmarkt ist nichts zu erkennen als die inzwischen selbst historische Gründerzeit der in die Planungsbüros einziehenden Computersoftware. Dem erst um die Jahrtausendwende realisierten Bau meint man die Klicks langer Büronächte vor flackernden Monitoren anzusehen. Allein darin scheint das Haus interessant: Aus seinen nüchternen Linien liest man – ebenso wie aus den zweckmäßigen Texturen der Plattenbauten oder den pseudobarocken Fassadenspielereien des frühen Sozialismus nebenan – nicht nur Weltbild und Leitwerte einer Epoche, sondern vor allem deren Technologie.

Ist es bei den Plattenbauten die Fabrik, das Fließband, die industrielle Produktion und deren ökonomische Notwendigkeit in einer Mangelwirtschaft, die in den Fassaden geschrieben stehen, so lässt sich aus der Investorenarchitektur der Dresdner Innenstadt die Bedeutung möglichst zügiger Investitionen unter Subventionsbedingungen lesen, der zeitgenössische Zwang zur Maximierung des Gewinns, die schlagartig verfügbaren neuen Baumittel und vor allem: die Computertechnologie und der ihr innewohnende Rationalisierungsschub. In einer rasant sich perfektionierenden virtuellen Welt der Software nebst beschleunigten Prozessoren wirken die geradegezogenen Parallelen dieser Häuser mittlerweile antiquiert, gerade so, als wäre ein 3-D-verwöhnter Computergamer mit den Pixelwelten der späten 80er-Atari/Commodore-Welt konfrontiert. Die alten Computerspiele erfreuen sich zunehmender nostalgischer Beliebtheit. Will man an ihr nicht verzweifeln, sollte man die »Investorenarchitektur« der Büro- und Warenhäuser dieser Zeit auch einmal so betrachten.

VII.

Jenseits des Altmarktes überquert man eine Grenze, die den Bruch der ostdeutschen Architekturhistorie markiert: den Wechsel vom Konzept des »Nationalen Bauens« zur internationalen – pragmatischen – Moderne. Mit dem Betreten der sich anschließenden Prager Straße bekommt man eine ferne Ahnung von den radikalen Neubauplänen Hans Hopps oder Mart Stams, die im Zuge des Wettbewerbs für den Wiederaufbau Dresdens das Tal weiträumig mit Hochhausscheiben zu durchziehen planten. Unter Negation der bisherigen Stadtstruktur und mit Verzicht auf den erhaltenen historischen Bestand wollten sie den konsequenten Neuanfang versuchen. Leitend war dabei die Erfahrung der mittelalterlichen, veralteten Innenstädte, die wenig Wohnqualität, keine moderne Infrastruktur, dafür Krankheiten und Enge boten. Zudem hat der Trümmerschutt der engen Gassen bei der Zerstörung ein Trauma der Beklemmung hinterlassen. Unter den damals vorherrschenden Leitgedanken einer begrünten, licht- und luftdurchfluteten, sozial-hierarchiefreien Stadt hätte die Konzentration der Bevölkerung in einigen Hochhäusern unter Beibehaltung der vormaligen Wohndichte – so der stadtutopische Plan – gigantische Freiräume ermöglicht, die zusammen mit den neuen Wohnungen ein Ideal sozialen Bauens verwirklichten. Heute gelten solcherlei Konzepte, die später für die Reißbrettstädte des komplexen Wohnungsbaus auf der grünen Wiese eine zentrale Rolle spielten, als gescheitert. Und obgleich Fragmente dieser Planungen später Einfluss auf Teile der Innenstadtbebauung Dresdens nahmen, machte schon damals das Entsetzen der Bevölkerung und Denkmalschützer derart radikalem Ansinnen ein Ende.

Die heutige Prager Straße wurde ab 1963 von Peter Sniegon, Kurt Röthig, Hans Konrad und anderen nach dem Vorbild der Lijnbaan in Rotterdam neben der Kasseler Treppenstraße als eine der ersten Fußgängerzonen Deutschlands konzipiert. Sie ist 700 Meter lang und zum Teil über 60 Meter breit. Als »Fußgängermagistrale und Zentrum des internationalen Tourismus« bildete sie das repräsentative Verbindungsstück zwischen Hauptbahnhof und Innenstadt. Während die breit angelegte Passage östlich von einem über 240 Meter langgestreckten Wohnhochhausband beschlossen wird, reihen sich auf der Westseite drei Scheibenhochhäuser in Kammstellung zur Prager Straße aneinander. Diese Hotels Bastei, Königstein und Lilienstein wurden von zweigeschossigen, pavillonartigen Zwischenbauten verbunden. Zwei freistehende Pavillons befanden sich auf der Ostseite in Front des Langhochhauses. Es gab eine von Landschaftsarchitekten erarbeitete Freiflächengestaltung, die neben einer speziellen Pflasterung und Bepflanzung auch Kunstwerke, Laubengänge und die Wasserspiele von Leonie Wirth und Karl Bergmann einbezog.

Nach der Wende fiel das Urteil über diesen Raum vernichtend aus: »Tatsächlich handelt es sich um eine ziemlich unpersönliche, zugige Einrichtung. Die Hotelneubauten auf der Linken und die Büro- und Wohnblöcke auf der Rechten wirken kühl und eher gigantisch als anheimelnd, zum Verweilen einladend. Die Prager Straße gewinnt erst dann an Lebendigkeit, wenn die Blumenrabatten blühen und sich die Vorgärten der Cafés bzw. Restaurants mit Gästen füllen. Im Prinzip versäumen Sie nichts, wenn Sie die Prager Straße nie betreten.« Der Reiseführer Ostdeutschland individuell umreißt damit die Stimmung, die die Diskussion um den Totalabriss der Straße legitim erscheinen lässt. Noch der Baedeker 2000 findet lediglich die Nachwendebebauung erwähnenswert, das Karstadtkaufhaus und den Kristallpalast von Coop Himmelb(l)au.

Doch Architekturhistoriker betrachten den Originalbestand als international bedeutendes Zeugnis der Moderne, wobei der fortschreitende Verlust bzw. die Überzeichnung des Ensembles das Bekenntnis umso leichter machen dürfte. Auf dieser Straße befinden und befanden sich die zwei neben dem Kulturpalast wichtigsten Solitäre der DDR-Moderne in der Stadt: Centrum Warenhaus und Rundkino. Rundkino e.V. und Arbeitsgemeinschaft Centrum Warenhaus sind die zuständigen Bürgerinitiativen.

Das Rundkino wurde 1970-1972 von Gerhard Landgraf, Waltraud Heischkel und Kollektiv errichtet und ist ein 20 Meter hoher Rundbaukörper von etwa 50 Metern Durchmesser. Vorgehängte weiß emaillierte Stahlblechbänder bilden vertikale schwarz-weiße Streifen. Ursprünglich freistehend kontrastierte das Haus die kubische Nachbarbebauung. Während der Rundbau, gegenwärtig wieder als Kino genutzt, inzwischen unter Denkmalschutz steht und die aufgrund von Flutschäden bis vor einiger Zeit unklare Zukunft einstweilen gesichert scheint, ist das »Wabenkaufhaus« seit 2006 Geschichte. Es wurde von 1968 bis 1970 unter deutsch-ungarischer Kooperation von den ungarischen Architekten Ferenc Simon und Ivan Fokvari projektiert und zwischen 1973 und 1978 aufgebaut. Es handelte sich um einen geschlossenen, viergeschossigen Kompaktbau, der mit einer plastischen Aluminiumwabenfassade umkleidet war. Der Sockel war als Schaufensterband zurückgesetzt.

VIII.

Unmittelbar nach der Wende fielen die Insignien der »sozialistischen Großstadt« nicht zuletzt wegen ihrer symbolischen und propagandistischen Bedeutung breiter Ablehnung anheim. Zudem waren die architektonischen Zeugnisse der DDR-Moderne Anfang der 90er Jahre noch nicht alt genug, um den Status schützenswerter Denkmäler beanspruchen zu können. Aufgrund der damals vorherrschenden Geringschätzung und des nach wie vor fragmentarischen Charakters der Dresdner Innenstadt wurde 1992/94, auch um des bis dato um sich greifenden chaotischen Investitions- und Baubooms Herr zu werden, ein neues Planungsleitbild für die Stadt geschaffen. Dieses sah und sieht u.a. die Verdichtung der Innenstadtbereiche vor, um dadurch einen durch die weiten Räume verlorengegangenen urbanen Charakter wiederherzustellen.

Auch die Prager Straße, deren Weiterexistenz in Gänze durchaus nicht gesichert war, wurde Gegenstand dieses bis heute verfolgten, wegen ausbleibender Investoren noch längst nicht vollständig umgesetzten Plans. Für die einst durchgehende Magistrale hieß das, dass man ihre Nord- und Südenden auf die Breite der historischen Maße von 18 Metern zusammenzog, so dass sich aus der Prager Straße ein geschlossener Platz ergibt. Im Zuge dieses Plans erfuhr das Ensemble nun über mehrere Jahre eine Überformung, während der wichtige gestalterische Elemente, Kunstwerke, ganze Gebäude, Pergolen, Brunnen und auch Bäume verlorengingen. Allerdings war die Bebauung des Areals vor der Wende auch nicht abgeschlossen, und immerhin ist in Fragmenten ein Grundcharakter dieser Straße noch erhalten, wonach es u.a. wegen eines zeitweilig ins Auge gefassten Abrisses der langen Hochhauszeile auf der Ostseite nicht aussah.

Das Rundkino wurde schon frühzeitig durch den Neubau des Wöhrl-Kaufhauses in den Hintergrund gedrängt. Nach der Flutkatastrophe von 2002 erfolgte zur Beseitigung der Folgeschäden 2004 zunächst eine umfassende Erneuerung des Bodenbelages der Fußgängerzone, im Zuge derer man wesentliche Elemente der Freiflächengestaltung wie die geschwungene, wellenartige Pflasterung einzelner Abschnitte entfernte. Erneuert und ersetzt wurden auch die Hochbeete und Brunnen. In die wiederaufgenommenen Bestandteile der früheren Brunnen wurde dabei massiv eingegriffen, so dass beispielsweise der berühmte Pusteblumenbrunnen nur noch drei statt fünf Metallblumen enthält, was die Künstlerin Leonie Wirth zu massivem Protest veranlasste. Eine der verschollenen Blüten tauchte, wie erwähnt, in der Ausstellung Mythos Dresden wieder auf.

Das ehemalige Centrum Warenhaus, an dessen Stelle gegenwärtig ein neues, von Peter Kulka entworfenes Einkaufszentrum entsteht, ist der wohl größte Verlust. Die futuristische Aluminiumwabenfassade war in seinem Kontrast auch Denkmal einer Mangelwirtschaft, die westliche Konsumpraxen im Rückzugsgefecht zu simulieren gezwungen war, obwohl die Distinktionsmaschine des Konsumismus etwas genuin Individualistisches ist, also etwas, was dem kollektivistischen Gesellschaftsbild der DDR fundamental widersprach. Es wird nicht zuletzt dieser strukturelle Widerspruch gewesen sein, die zu ihrem Untergang geführt hat. Insofern ist der Neubau der gigantischen, viel größeren Centrum Galerie nur eine konsequente Weiterführung, ein Statement des ideengeschichtlichen Originals, das die impliziten historischen Kausalitäten umso nachdrücklicher betont. Obwohl sich auch für den Erhalt des alten Centrums eine Bürgerinitiative einsetzte, blieb der Rettungsversuch aussichtslos, denn die Centrum Galerie, die die ursprüngliche Wabenverblendung in Ausschnitten wieder aufgreift, vollendet an der Nordseite der Prager Straße ihre laut Plan vorgesehene Verengung. Mit dem Erhalt des alten Hauses hätte nicht nur das gesamte Innenstadtkonzept gewankt, sondern die bereits errichteten Häuser, auch die schon erfolgte Verengung in Richtung Hauptbahnhof wären ihrerseits als Fragmente zusammenhangslos stehengeblieben.

Mit der sozialistischen Moderne und den ihr nachfolgenden Warenhäusern und Markenzeichen bildet die Prager Straße somit abermals ein Palimpsest einander ablösender Sinnsysteme. Die Subarchitektur der Markenzeichen, welche zu den sie umgebenden Plattenbauten in ihrer globalen Monotonie eine bemerkenswerte Analogie herstellt, hielt 1991 – der inbesitznehmenden Flagge auf den unwirtlichen Weiten des Mondes gleich – in Form des kollektiv herbeigesehnten güldenen M’s mitten auf der Prager Straße Einzug, wo es nach einer Pause an ähnlichem Ort seit kurzem wieder erstrahlt. Doch während die Einkaufspassagen in unzähligen Kleinstädten unter ihnen immer ununterscheidbarer werden, türmen sich die Markenzeichen in größeren Städten zu mächtigen Kathedralen auf: Die Centrum Galerie wird ein riesiger umbauter Raum sein, ein in Dresden ungekannter Einkaufstempel, erschlossen über mehrere Etagen durch eine fast sakrale Halle.

Neben der ehrfurchtgebietenden Architektur haben die Kaufhäuser mit den Kathedralen (als Bischofssitze) den normativen Anspruch gemein, Sinn zu erzeugen. Ein Anspruch, wie er sich auch in der inflationären Benennung der Kaufhäuser nach Institutionen des Öffentlichen widerspiegelt: dem »Forum«, im alten Rom das Zentrum des kulturellen, politischen und wirtschaftlichen, auch religiösen Lebens; oder nach dessen architektonischen Entsprechungen: Arkade, Atrium, Galerie, oder eben: Centrum. Und ebenso werden sie entweder die Museen der Zukunft sein, oder im Gegenteil, wenn eines Tages die Masse der Verkaufsflächen mit den tatsächlich noch in den schrumpfenden Städten lebenden Menschen in keinem Verhältnis mehr steht, die Wohnareale der Kreativen, der Outlaws, Hausbesetzer und Studenten, die sich, ähnlich wie zu DDR-Zeiten in die zerfallenden Gründerzeitquartiere, nun in die gigantischen leeren Kaufhaushallen und Bürozeilen der verlassenen Innenstädte flüchten.

IX.

Die Vorgänge auf der Prager Straße und anderswo werfen Fragen auch über den Umgang mit Kunstwerken auf, die in Deutschland immerhin einem besonderen Urheberschutz unterliegen. Der Althistoriker Alexander Demandt hat in seiner Studie zur Gewalt gegen Kultur die »Beschädigung oder Beseitigung von Kunstwerken und Denkmälern in einem größeren politischen, ideologischen oder ökonomischen Kontext, in der Absicht oder mit der Folge einer Bewußtseinsänderung« als Kulturvandalismus definiert: »der gewaltsame Versuch, Erinnerung zu beseitigen oder zu verändern.«

Kunst im öffentlichen Raum, ihr konkretes Zusammenspiel mit Architektur und Städtebau spielte in den sozialistischen Gesellschaften eine herausragende Rolle. Die Praxis der Zusammenarbeit zwischen bildenden Künstlern und Stadtplanern war amtlich reglementiert. Künstler waren sowohl direkt bei der architektonischen Gestaltung öffentlicher Räume involviert als auch maßgeblich mit Skulpturen, Wandbildern und Inneneinrichtungen beteiligt. Dabei war die künstlerische Praxis eingebunden in das weitgehend vordefinierte Konzept des Sozialistischen Realismus’ samt seiner normativen Implikationen. Überdies erfuhr die Kunst eine ideologische und erzieherische Funktionalisierung. Kunst im öffentlichen Raum war folglich ein bewusst eingesetztes Propagandainstrument.

Daraus erklärt sich teilweise der weitgehend indifferente Umgang, dem diese künstlerischen Artefakte seit der Wende ausgesetzt sind. Sowohl Skulpturen als auch Wandbilder und ganze architektonische Komplexe werden zum einen bewusst unter politischen Gesichtspunkten entfernt, aber auch in Unkenntnis der künstlerischen Werte »nebenbei« beräumt, um Platz für Bauland freizumachen. Oft werden Kunstwerke nicht (mehr) als solche wahrgenommen und ohne Aufhebens zerstört; oder man greift wie beim Pusteblumenbrunnen ohne die Rechte des Urhebers zu beachten in sie ein. Hinzu tritt das Problem des allmählichen Verfalls durch Witterungseinflüsse etc. Einer schleichenden Zerstörung fallen Wandmalereien, Glasfenster, Innenarchitekturen und Interieurs anheim, weil Gebäude umgenutzt oder abgerissen werden. Containerweise holt man die zertrümmerte Inneneinrichtung und nie gezählte Kunstgegenstände aus ehemaligen, nun überflüssigen Prestigebauten. Bagger fressen sich in Wandgemälde, die nur noch einstigen Akteuren gegenwärtig sind, die in stillem Gram das Verschwinden ihrer Lebenswerke dokumentieren, ohne noch die Stimmen zu erheben. Niemand machte sich die Mühe, die Bilder wenigstens zu fotografieren, geschweige denn, sie kunsthistorisch aufzuarbeiten oder zu retten. Der Abriss des sogenannten »Fresswürfels« am Postplatz ist ein Beispiel.

Auf der Prager Straße gingen insbesondere im Restaurantkomplex International, das als Centrum-Nachbar ebenfalls dem neuen Kaufhaus weichen musste, viele Kunstgegenstände verloren. Ein ehemaliger Mitarbeiter, der Listen von ins Haus einst eingebrachten Kunstwerken erstellte und an die Denkmalschutzbehörden weitergab, mutmaßte, dass die Kunstwerke in finsteren Kanälen versickerten. Tatsächlich kam wohl bei der Umnutzung des International als Sportkaufhaus der größte Teil der u.a. vom Holzgestalter Lüder Baier geschaffenen Holzeinrichtung in den Container.

Ein ähnliches Schicksal ereilte ein weiteres, immerhin noch existierendes, weil denkmalgeschütztes Wandbild in der Nähe. Bewegt man sich rechts, Richtung unsichtbaren Hauptbahnhof, immer an der Wand entlang bis zu dem quergestellten Glasgebäude, das den heutigen Platz beschließt, gelangt man rechter Hand in eine kleine Gasse, das Ergebnis der Verdichtung. In dieser abgewinkelten Hinterhofpassage blickt versteckt, an dem ehemaligen Restaurantkomplex Bastei, der heute ohne typische Betonlamellen ein leerstehender Glaskubus ist, eine Frau mit Blumenstrauß und ausgebreiteten Armen von Meißner Keramikkacheln auf die Lagerräume eines Schuhgeschäfts. Die Gasse ist nur wenige Meter breit, das Bild hängt an der Wand des zweiten Stocks und ist daher nur im spitzen Winkel zu betrachten. Dresden grüßt seine Gäste, von Kurt Sillack und Rudolf Lipowski geschaffen, begrüßte einst über den großen, unbebauten Leninplatz hinüber zum Hauptbahnhof den ankommenden Reisenden. Nun verirrt sich selten jemand hinter die Kulissen, und wenn, ahnt keiner einen Grund, hinaufzuschauen.

Die Prager Straße mündet auf den Wiener-, früher Leninplatz, der jetzt kaum mehr ein Platz ist. Auf dem teilweise nun bebauten, zum Teil noch ausgehobenen, nie wieder geschlossenen »Wiener Loch« vorm Hauptbahnhof stand einst ein Lenin-Monument aus »karelofinnischem Granit«. Das Denkmal wurde 1974 von dem sowjetischen Bildhauer Grigorij Jastrebenezki entworfen und ’92 demontiert. Als Produkte der systematischen Durchsetzung des Raumes mit Herrschaftsinsignien wirken solche Monumente nicht so subtil wie umgetaufte Straßen oder Plätze. Sie repräsentieren ziemlich nachdrücklich die jeweilige Deutungsmacht. Entsprechend stehen in Umbruchzeiten die Denkmäler der Vorgänger zur Disposition. Was man vielleicht als mittelalterliche Praxis wähnt, der Bildersturm, ist nach wie vor ein kulturkämpferisches Instrument auch des Westens: Die Bilder stürzender Saddam-Skulpturen gingen um die Welt. Den Palast der Republik hat man als Symbol der DDR jenseits ökonomischer Vernunft zerstört. Was Saddam von Lenin unterschied, ist, dass ersterer sich lebend Denkmäler errichten ließ, während letzterer schon mehr Symbol, Ikone war. Übrigens schon in den 20er Jahren, vielleicht als erster Popstar: technisch reproduziertes Herrschaftscharisma. In seinem Moskau-Tagebuch schildert Walter Benjamin ganze Lenin-Läden, Lenin-Merchandise. Hier nun ist die Demontage eine Spielart der »damnatio memoriae«, gezielter Eingriff in die Erinnerungskultur einer gescheiterten Gesellschaft.

Der Künstler Rudolf Herz hat 1991 vorgeschlagen, anstatt des schon beschlossenen Abrisses das Denkmal in Einzelteile zu zerlegen, es umzuarrangieren und damit nicht nur zu erhalten, sondern auch den Brüchen der Geschichte ein Denkmal zu errichten: Lenins Lager, als sichtbar gemachter Denkmalsturz. Dagegen wandte sich die Bildzeitung, und aus Schwaben meldete sich der Chef einer Grabsteinfirma, der einen Skulpturenpark aus Ostblockdenkmälern errichten wollte. Nach dessen Tod erbte sein Sohn das Monument, und es kam zu Lenin On Tour. Rudolf Herz bekam die Teile des Denkmals geliehen und tourte mit den Granitschädeln auf einem Sattelschlepper durch Europa. 2004 kam das Denkmal nach zwölf Jahren kurz in die Stadt zurück und machte vor der Frauenkirche halt. Gleichsam als Ersatz für Lenin steht seit Jahren eins der lebenden Denkmäler Dresdens am Nordende der Prager Straße vor dem Karstadt-Kaufhaus: Herr Westphal mit der roten Fahne, unermüdlich für den Sieg des Kommunismus agitierend.

X.

Hinter den neuen Glashäusern des Wiener Platzes schließlich erreicht man den – während der Flut 2002 von der Weißeritz durchströmten – Hauptbahnhof, über dem sich seit seiner Renovierung eine von Sir Norman Foster entworfene Membrankuppel erhebt. Eine Halle übrigens, die wie bei allen Bahnhöfen aus dieser Zeit nur aufgrund der Rauchentwicklung der Dampflokomotiven so hoch ist – ein Umstand, der nicht nur einen gewissen technischen Entwicklungsstand architektonisch sichtbar macht, sondern auch die gegenwärtige Raucherphobie der Bahn (»rauchfreier Bahnhof«) einigermaßen absurd erscheinen lässt.

Die Funktion des Bahnhofes als Kommunikationsraum und Ort sozialer Interaktion und Fürsorge wird heute explizit bestritten, obwohl man auch das Gegenteil behauptet, sobald ein Bahnhof sich zum Kaufhaus wandelt. Bahnhöfe sind steinerne Metaphern des Fortschrittsglaubens, der Mobilität, der Dampfmaschine: die in jeder Großstadt vorzufindenden Kathedralen des 19. Jahrhunderts. Indem sie Kaufhäuser werden, deuten sie sich in die Gegenwart. Der Mikrokosmos Bahnhof, vormals Knotenpunkt gesellschaftlichen Lebens, erweist sich damit als Paradigma globalerer Prozesse der Umdeutung öffentlichen Raums. Seit der Umwandlung der Bahn von einer Behörde zu einem privatwirtschaftlich organisierten Unternehmen, wenn auch noch im Eigentum des Bundes, übt in Bahnhöfen eine Aktiengesellschaft Hausrecht aus. Sie kann bestimmen, wer genehm ist und wer nicht. Obdach- und Fahrscheinlose ohne Konsumbegehren sind es nicht; der Mensch ist nur mehr als Passant erwünscht, ablesbar am sukzessiven Wegfall von Sitzgelegenheiten.

Der öffentliche Raum wird zunehmend privatisiert, hauptsächlich um die Kommunen finanziell, den Gesetzen freier Marktwirtschaft entsprechend, zu entlasten. Neben dem »Outsourcing« öffentlicher Verantwortung in privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen werden städtische Betriebe oder Grundstücke verkauft. Dresden machte 2006 Schlagzeilen mit dem Verkauf der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft Woba an ein amerikanisches Investmentunternehmen. Damit gab die Stadt trotz einer »Sozial-Charta« ihr Handlungs- und Gestaltungsinstrument für die Wohnpolitik aus der Hand. Das der Kommune verbliebene Belegungsrecht für 8000 Wohnungen ist bis 2026 befristet. Der Coup verstörte Einwohner wie westdeutsche Städte, die sich um ihre Aufbau- und Sanierungshilfen betrogen sahen und das Geld zurückforderten, mit dem sich Dresden als erste deutsche Großstadt schuldenfrei machte. Der Vorgang ist das spektakulärste Beispiel einer überregional zu beobachtenden Tendenz, städtischen Besitz, auch Raum und Nutzungsrechte zu veräußern. Städte werden überall zu privatwirtschaftlichen Konstruktionen, und deren Bewohner folglich Nutzer, Kunden, Eintrittzahler – vorausgesetzt sie sind liquide. Erst mittelfristig wird sich zeigen, was das für Konsequenzen für Demokratie und Mitbestimmung hat. In marktwirtschaftlich organisierten Institutionen gibt es naturgemäß keinen Raum dafür, da diese anderen Zwängen und Gesetzen unterworfen sind.

Ein Beispiel – außer Kaufhäusern, die immer größer werden und frei zugängliche Räume schrumpfen lassen – ist im großen Stil der Potsdamer Platz, Berlin, ein einziger, großer, privatisierter Stadtraum, in dem zum Teil sogar die Wege den Konzernen gehören. Der moderne Potsdamer Platz simuliert Stadt und wird nach Geschäftsschluss ein von privaten Sicherheitsfirmen überwachtes Betriebsgelände, auf dem man strengen Verhaltensregeln unterworfen ist. Zugang wird beschränkt, das »Teilhaberecht« aller, Fundament jeder demokratischen Gesellschaft, wird plötzlich obsolet, weil an Bedingungen ökonomischer Natur geknüpft. Aus dem Ideal der Inklusion – ungeachtet dessen, dass es womöglich ohnehin nie völlig durchgesetzt war – wird Exklusion, oder schöner: Exklusivität.

Vom Panoptikum der Kameras ganz zu schweigen.

XI.

Vom Hauptbahnhof fährt die Straßenbahnlinie 7 zurück ans andere Elbufer. Man passiert die St. Petersburger, vormals Leningrader Straße, die sich – dank Entwicklungen globaler Dimension – sozusagen selber umbenannte. Kristallpalast, Pirnaischer Platz, Neue Synagoge. Letztere ist ein leicht in sich gedrehter, mauernbewehrter Kubus; ein eindrucksvolles Beispiel neuester Architektur in Dresden. Mit der Drehung wird trotz des schmalen Baugrundstücks die notwendige Ostausrichtung erreicht. Die alte Synagoge Gottfried Sempers fiel an eben dieser Stelle der Pogrome des Novembers 1938 zum Opfer. In den 90er Jahren hat man – parallel zum Spendenaufruf für die Frauenkirche – Geld für das neue Haus gesammelt. 1931 vermerkte Woerl’s Reisehandbuch, dass von den zu diesem Zeitpunkt etwa 640.000 Einwohnern – Dresdens Höhepunkt – »die überwiegende Mehrzahl Lutheraner, etwa 10 v. H. Katholiken und 1 v. H. Juden« sind. 54 Jahre später, 1985, weist der Reiseatlas auf den Rückgang der Bevölkerung aufgrund des »faschistischen Terrorregimes« hin und bemerkt, dass »[i]nfolge der faschistischen Rassengesetze [.] zahlreiche Bürger Dresdens aus ihren Berufen vertrieben und teilweise zur Emigration gezwungen« wurden. Von Deportationen der Juden aus der Stadt sprach man direkt lieber nicht.

Es folgt die Elbquerung über die Carolabrücke, mit Blick auf die berühmte Stadtsilhouette, eine Version des Canalettoblicks, allerdings im falschen Winkel. Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, venezianischer Vedutenmaler und längere Zeit auch in Dresden tätig, malte im 18. Jahrhundert mithilfe der Camera obscura den Elbblick von Nordwesten auf die Altstadtsilhouette. Mehr als alles andere ist es dieses Bild, das Dresden definiert, es führt den Kanon an. Es gibt noch zwei Fotografien von Richard Peter, Chronist des Untergangs: Der Blick vom Rathausturm. Eine der Statuen der Aussichtsplattform, August Schreitmüllers Die Güte, schaut auf das Trümmerfeld. (Es gibt ein fast identisches Bild von Walter Hahn.) Die zweite zeigt den aus einem Luftschutzkeller geborgenen Totenschädel, ein verglühter, aber noch behaarter Kopf, am Ärmel eine Hakenkreuzarmbinde. Man sieht dieses Bild heute seltener, früher kannte es jedes Kind. Es sind noch die Gemälde Raffaels und Giorgiones anzufügen: die Sixtinische Madonna und die Schlummernde Venus. Zwischen diesen Bildern spannt sich Dresden auf: Stadt der Künste, Sandsteinskyline, Feuersturm. Der Vorwurf, der in Peters Trümmerbildern steckt – das wird heute gerne übersehen, wenn man nur das Rathausbild betrachtet – richtet sich vor allem an sich selbst: die Hakenkreuzarmbinde kam zuerst. Mittlerweile ist ein weiteres, irgendwie bewegtes Bild hinzugekommen, das man vielleicht zum Kanon zählen muss: Semperoper bei Nacht. Hell erleuchtet, Tannhäuser, tiefe Stimme: »Es ist an der Zeit, ein Bier zu feiern, wie es so gebraut in Deutschland nirgendwo ein zweites gibt.« Seit diesem Werbespot wird die Semperoper oft mit einer Brauerei verwechselt.

Die Elbe, wie jeder Fluss, prägt wesentlich die Stadt. Mit ihm verschmilzt in ihrem Selbstverständnis das sogenannte »Elbflorenz« zur Landschaft. Etwas zu wörtlich nahm die Elbe das 2002 bei der damals so genannten »Jahrtausendflut« – in den Annalen nach dem Südostasien-Tsunami 2004 bescheiden zur »Jahrhundertflut« zurückgestuft. Man erinnert sich an Fernsehbilder vom gummigestiefelten Kanzler Schröder, der im Schlamm für die bevorstehende Bundestagswahl Punkte sammelt, oder den aus einem Schlauchboot moderierenden RTL-Anchorman Peter Kloeppel. Vier Jahre später hat sie noch den damals amtierenden Oberbürgermeister mitgerissen. Und mit der Elbe hat schließlich auch die anhaltende Schlacht um die unsägliche Waldschlößchenbrücke zu tun, in der die Dresdner Befindlichkeiten entlang vollkommen diffuser Frontlinien kulminieren.

XII.

Nach der Elbquerung erreicht die Bahn die Dresdner Neustadt. Aussteigen am Albertplatz, vormals Platz der Einheit. Spätestens hier kehrte früher jeder Reiseführer um. Der Platz ist Einfallstor zum Kontrapunkt der touristischen Kernzone, Pendant und Gegenpol der Altstadt, ohne den Dresden nicht funktioniert.

Das Gründerzeitviertel, historisch vor den Stadtmauern gelegen und daher amtlich Äußere Neustadt, blieb vom Krieg weitgehend verschont und hat noch gerade so die DDR-Zeit überstanden, bevor es in sich zusammengefallen wäre. Heute ist die Neustadt das, was man distinguiert ein »Szeneviertel« nennt, und in den Erzählungen der alten Hasen selbst so etwas wie ein Mythos. Die Neustadt ist wie Prenzlauer Berg, Berlin, ein Relikt der DDR-Wohnungspolitik und ebenso wie dieser heute einer Gentrifizierung unterworfen.

Die Bewohner einer Stadt sind ihr wichtigstes Strukturelement. Soziale Zusammenhänge bauen an ihr mit: biographische Stationen, kulturelle Prägungen, Bildungslevel, Einkommen, die Beziehungen und Durchmischung der Bevölkerungsgruppen an einem konkreten Ort. Unterschiedliche Stadtteile sind daher auch Produkte von sozialer Trennung, Segregation. Gleichzeitig forcieren und verfestigen sie diese: Arbeiterviertel, Villenvorort, Migrantenstadtteil, »Szeneviertel«.

In Ostdeutschland haben letztere ihren Ursprung in der Geldknappheit der DDR-Bauwirtschaft, die panisch Neubaugebiete auf die grüne Wiese klotzte, weil man schnell viele Wohnungen brauchte. Da man für dieselben Summen mehr Wohneinheiten bauen als sanieren konnte, waren Altbauten meist dem Verfall preisgegeben. Die offiziell bald unvermietbaren Ruinen wurden zum Anziehungspunkt ökonomisch schwacher Bevölkerungsteile und so zum »informellen Sektor«. In der DDR waren das oft kreative und gebildete Köpfe, denen wegen ihrer nonkonformen Lebens- oder Denkweise der soziale Aufstieg vorenthalten wurde, neben Studenten also Künstler, Subkulturen, kurz: Bohème.

Die knappen Neubauwohnungen wurden hingegen hauptsächlich an junge Arbeiterfamilien vergeben. Während aber vor der Wende die Neubaugebiete voll bewohnt und relativ durchmischt waren, setzte in den 90er Jahren eine sprunghafte Abwanderung ein. Die, die es sich leisten konnten, zogen in Eigenheimvorstädte, welche man wiederum nach und nach in die Stadt eingemeindete. In kurzer Zeit holte Ostdeutschland das westliche Phänomen der Suburbanisierung nach, und die alten Wohnkomplexe wurden stadtplanerische Krisenzonen. Die durch die Belegung relativ homogene Altersstruktur der früher jungen Leute hat heute eine kollektive Alterung in dem Gebiet zur Folge; eine Entwicklung, die auch vor der Wende sogar drastischer stattgefunden hätte. Hinzu kommt der demographische Wandel, die Schrumpfung der Bevölkerung. Für die Städte insgesamt bedeutet das, dass sie in Konkurrenz zueinander treten: um Anwohner, Industrien, Touristen. Leipzig versuchte beispielsweise vor nicht allzu langer Zeit, zahlungskräftige Westrentner in die Stadt zu locken. Die Städte werben sich die Menschen ab, denn bei »negativem Bevölkerungswachstum« heißt Zuzug immer Wegzug anderswo. Hier schließt sich ein Kreis. Städte werden Unternehmen, die sich vermarkten und ein »Image« geben müssen, ein werbendes, von ökonomischen Zwängen definiertes Selbstbild. Dieses wirkt wiederum selektiv, indem es die von diesem Bild abweichenden Gruppen ausschließt.

Die Neustadt ist seit einiger Zeit zu einem solchen Werbefaktor avanciert. Die heutige Gründerzeitbebauung ist Ergebnis des Wirtschaftsbooms im ausgehenden 19. Jahrhundert. Nach dem Krieg fiel sie aus Geldmangel breiter Vernachlässigung anheim. Mitunter standen nur noch die Fassaden, Bäume wuchsen aus den Dachrinnen, Wäschebodendielen wurden bituminiert, weil an Dachdecken nicht zu denken war. In diesem Umfeld sammelten sich die Lebenskünstler: Musiker, Maler, Punks. Die Neustadt ist der Nukleus der »anderen« Stadtgeschichte Dresdens, der Ort illegaler Konzerte und Galerien, nonkonformer Kunst und alternativer Lebensweisen, auch der arbeitsscheuen Lebenszeitverschwendung, die es in der DDR offiziell nicht geben durfte. Soweit die Fama. Hier war – und ist irgendwie noch immer – der Schauplatz des Kleinkriegs mit dem Staat, das Fluidum freier Liebe, auch des Verrats: Der berühmt-berüchtigte Sascha Anderson war hier wie hernach in Berlin eine wichtige Figur. Nach der Wende folgte der Häuserkampf um die von Investoren aufgekauften Straßenzüge. Aus Protest entstand die Mikronation und das Anwohnerfest Bunte Republik Neustadt. Um die Jahrtausendwende haben ahnungslose Behörden das Fest auch manchmal niederknüppeln lassen, inzwischen ist es gigantisches, überregionales Event mit Bierwagen und Sponsoren, weitab von seinem Ursprung.

Aus diesem Erbe speist sich der Neustadtmythos, entspringt der Kult um diesen Stadtteil. Heute ist er Epizentrum ansässiger Studenten-Bohème und nachwachsender Spaßgesellschaft. Scharenweise fällt die Jugend aus dem Umland ein, zwiespältig beäugt von den Alteingesessenen, die es ja ihrerseits aus ähnlichen Gründen einst in die Neustadt zog. Politische Ambitionen und künstlerische Kreativität sind vielerorts versickert, zu glatt die Fassaden, zu plastik zuviele Cafés in zuwenigen Händen. Die abgerissenen Hahnenkämme sind hochgegelten Mode-Iros gewichen, die neuerdings an Frühlingswochenenden in ungezählten »Junggesellenabschieds«-Grüppchen mit Luftballons am Hintern ihre bevorstehende Vermählung feiern.

In dieses Refugium nun dringt nach langer Vernachlässigung die Stadt, indem sie plötzlich Parkautomaten installiert, an Wochenenden Bierverkauf ab 22.00 Uhr verbietet und Überwachungskameras anschraubt. In Auseinandersetzungen um die Kameras wie um die Bebauung der Kamenzer-Straßen-Brache (Supermarkt vs. Kinderspielplatz) äußert sich dann doch noch immer die streitlustige Neustadtbürgerschaft; ferner wird von Zeit zu Zeit politisch demonstriert, notfalls auch grundlos randaliert.

Mit dem klassischen Prozessverlauf einer von Stadtsoziologen so genannten Gentrifizierung nehmen Viertel wie die Neustadt eine zu den Neubaugebieten gegensätzliche Entwicklung. Während diese eine negative Umwertung erfuhren, wurden jene für die Mittelschicht attraktiv: Die von billigen Mieten angelockten Subkulturen, Künstler und Studenten ziehen Clubs und Kneipen nach sich. Mit dem Abschluss ändern sich die ökonomischen Bedingungen der Studenten, sie kriegen Jobs und Kinder. Kommerzielle Gaststätten und Bars etablieren sich und werben um auswärtige Gäste. Die noch immer billigeren Grundstücke werden dank des Entwicklungspotentials für Investoren interessant, Häusersanierungen folgen, Mieten steigen. Die ursprünglichen Bewohner wandern ab, höhere Mieten beschränken den Zugang für das Lebenskünstlerklientel. Der allgemeine Lebensstandard steigt, zum Schluss wird luxussaniert. Gerechterweise muss man sagen, dass ohne private Investoren in der Neustadt kaum ein Haus mehr stünde.

Vorerst bleibt die Neustadt trotz allem noch ein heimeliger Nexus zwischen Kicker, Eckenbier und Abwaschdienst. Neubauviertel wie Gorbitz oder Prohlis werden die Neustädte von morgen sein.

Epilog

Es hat sich eingebürgert, dass, wer Dresden sagt, auch Mythos sagen muss. Folgt man dem Alltagssprachgebrauch, schimmert in der Ferne ein ironisches Auge auf, das sich der Stilisierung wohl bewusst ist, und der Mythos wird zu einer kleinen, liebevollen Flunkerei. Doch das Wort vom Mythos bleibt nicht ohne Pathos, nicht ohne Anleihen an der antik-heroischen Dimension des Begriffs. Die Euphorie im Jubiläumsjahr 2006, zusammen mit dem Taumel um die Fußballweltmeisterschaft, gipfelte in einer bisweilen komisch anmutenden Überhöhung.

Der Mythos-Begriff Roland Barthes’ geht davon aus, dass im Mythos das eigentlich Gesagte, das »linguistische System«, hinter dem sekundären »semiologischen System« einer Metasprache zurücktritt. Der Sinn der eigentlichen Erzählung wird zu einer bloßen Form, die neue Bedeutungen aufnimmt. Für Dresden heißt das, dass die Rede vom bloßen Fakt seiner Zerstörung nicht nur die Zerstörung selbst meint, also das buchstäbliche Zertrümmern von Bausubstanz, sondern Sub-Bedeutungen umreißt, die je nach Positionsbestimmung Fragen der Kriegsschuld und -unschuld aufwerfen, der Rationalität und Effizienz von Zerstörung, der Legitimität und Illegitimität des Tötens, um Versöhnungsgesten, Modi des Erinnerns und andere. Als ihre Funktion leiten sich Diskussionen um konkrete Architekturen ab, Fragen des Denkmalschutzes und des Rechts späterer oder früherer Bebauungen, Stadtvisionen und Utopien, die jeweils wieder auf zugrunde liegende Menschenbilder und Weltentwürfe verweisen, sowie auf Stadien technischen Fortschritts und die Teilhabe bestimmter Bevölkerungsteile daran, oder deren Ausschluss. Die scheinbare Tabula rasa freigebombten Baulandes entpuppt sich so als Palimpsest der Projektionen, virtuellen Vorstellungen der Stadt, die vom vermeintlich »unbeschriebenen« Brachland der unmittelbaren Nachkriegsgegenwart in utopische Vergangenheiten und Zukünfte ausstrahlen: ein Schlachtfeld widerstreitender Identitäten. Und aus diesem Wirrwarr in unterschiedlichste Richtungen schießender Vektoren fügte sich in austaxierter Starre das heutige Stadtbild.

Aus: Ausgabe 1 – Zeitschrift für Weltverdopplungsstrategien, erste Ausgabe »Die Stadt«, Leipzig 2009; Gesellschaftsmagazin zu Politik, Wissenschaft und Kunst – Reportagen, Essays, Interviews, Fotografie, Illustration, Graphic Novel – www.ausgabe1.de

Quellen (Auswahl)

Literatur, Bildbände, Zeugnisse

Reise- und Architekturführer

Presse

Etc.

Netz