Oliver Kluck

Über das Prinzip einer Generation

Das Prinzip Meese basiert nicht auf einem Zitat von Wittgenstein, es ist nicht Nietzsche, nicht Kant und nicht Frankreich in den Sechzigern. Das Prinzip Meese hat auch nichts mit dem Theater zu tun, nichts mit dem Generationenvertrag und nichts mit dem Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. Das Prinzip Meese ist das Lebensprinzip einer Generation, der Generation Meese, für die das Internet genauso selbstverständlich ist, wie die Joghurtkur nach einem vaginalen Infekt. Angehöriger der Generation Meese zu sein, bedeutet gut zu sein, genauso wie Jonathan Meese, der Namensgeber der Generation, es vorlebt. Gut sein, bedeutet die Wahl zwischen Chucks und Sneakers, zwischen liegenbleiben und länger schlafen oder liegenbleiben und onanieren und länger schlafen. Als god of hellfire der Farben rot & schwarz und einzig lebendiger Künstler der Gegenwart, ist Jonathan Meese Taktgeber einer Jugend, die ohne Zahnbürste am Morgen danach an einem ihr unbekannten Ort aufwacht, auf dessen Dielen Zigarettenstummel liegen, altes Essen und leere Flaschen. Das Erwachen der Generation Meese ist ein böses, weshalb sie es vorzieht nie zu schlafen. Sie ist eine rastlose Generation, deren Lebenszeit gefüllt ist mit der Suche nach einem Raum zum Leben der eigenen Kultur.

Die Kultur ist kein Zitat von Wittgenstein, sie ist kein Kanon der Weltliteratur, nicht Thomas Mann, nicht Kafka, nicht Nabokov, sie ist die auf der Haut klebende Unterwäsche. Kultur ist keine Musik musikschwangerer Hallen, sie ist das Lied, das entsteht wenn eine Bassgitarre singt, sie ist Hüllkurve zugleich und Oszillator, Postrock und Indie. Kultur ist keine Lehrmeinung, sie ist intensives Vögeln an einem Dienstagvormittag, in einem Bett, in einem Zimmer auf dessen Dielen Zigarettenstumpen liegen und auf dessen Nachtschrank; einem leeren Bierkasten mit einer Sperrholzplatte obendrauf, ein advant pop reader neben einer Kerze und einem Löffel. Die Kultur der Generation Meese ist eine Kultur der Notwendigkeiten, die sich befreit hat vom Ballast des Widerspruches. Sie ist eine Kultur des Protests, der sich durch die Nichtbeachtung von Autoritäten Ausdruck verschafft. Das Schweigen als die subtilste Form der Kommunikation. Die Generation Meese erlebt die Landschaft der Politik als Mann und Frau und Exkremente, sie mischt sich selbst zuliebe aus jeglicher medialer Konsensbildung aus. Wichtiger als der Konsens, ist für die Generation Meese die Frage nach der Farbe der Unterwäsche einer Mitfahrerin. Das kollektive Reisen erfolgt automobil und führt immer zum Aeroport, es ist privat, flexibel und preiswert. Wie schon angedeutet, verläuft das Leben der Generation Meese größtenteils im Liegen. Der Lebensraum ist ausschließlich urban, er ist konnektiv und genauso schnell aufzusuchen, wie zu verlassen. Ein hoher Grad an Mobilität, die Bereitschaft zur räumlichen Veränderung und damit einhergehend die geringe Nachfrage nach durablen Bindungen, sind besondere Merkmale der neuen Jugend, die als einzige individuelle Besitztümer über eine externe Festplatte, ein Spritzenbesteck und einen Audi Quattro verfügt.

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Die Generation Meese ist nicht empfänglich für monetäre Verlockungen. Wie die Politik, ist auch das Thema Geld sekundär. Die Generation Meese selektiert nicht zwischen Arbeitsamt und BMW- Foundation, zwischen der Mütze vor den Beinen auf dem Terrazzo einer Bahnhofshalle und dem Stipendium einer Parteistiftung. Woher die Existenzgrundlage kommt ist nicht entscheidend. Von Interesse sind die Höhe des Dispositionskredites und die Möglichkeit, eine zweite Kreditkarte zu bekommen. Die Bank ist einer der wenigen Freunde der Generation Meese. Die Altstimmen der Kundenbetreuung sind nicht selten der einzige familiäre Kontakt, den ein Mitglied der Generation Meese hat. Die Bank ist in Personalunion Familie und Kunde der Generation Meese, deren ausschließlich in der Phase ihrer Selbstdefinition entstehende Kunst ihren Platz auf den Fluren und im Heizungskeller der Glas/Beton gewordenen Zentralen findet und wenn nicht eingerahmt aufzuhängen, als Lyrik Crossover verbal ejakuliert wird, idealerweise im Börsensaal der Sparkasse, untermalt durch das Klirren von Proseccogläsern und den Verdauungsgeräuschen vorhergehender Generationen, die mit leicht geneigtem Kopf das hören, was sie immer schon gesagt haben. Die Generation Meese ist keine wissbegierige Generation, die Tourismusmanagement an einer Fachhochschule studieren muss. Sie weiß, dass Schulen wie Universitäten exzellent sind. Sie weiß auch, dass professorale Bemühungen zu nachlässig rasierten Absolventen führen, deren große Masse sich aus Hundeliebhabern und Gurkenessern rekrutiert, Fußgänger in Multifunktionsbekleidung, deren Ofentür der Verwirklichung im weltlichen Beruf bereits weit offen steht. Die Generation Meese benötigt keine Perspektiven, sie braucht nie mehr, als ihren Platz für chillout & Cunnilingus, früh morgens dreizehn Uhr. Anders als das Schwarz eines Raben, das durch das Licht zum Dunkelblau wird, bleibt die Farbe der Generation Meese ausschließlich morph. Die Philosophie der Generation Meese ist eine Philosophie der Verwirrung. Jonathan Meese selbst gab zu Protokoll, er wäre verwirrt. Geringfügig vereinfacht, lässt sich die Konfusion der Generation Meese auf intersubjektive Beeinflussungen und inflationäre Auskunft über körperliche Befindlichkeiten zurückführen. Demnach ist die Frau bereits in ihrer Phase des Mädchenseins ein Opfer sogenannter männlicher Allgegenwart, aus ihrem natürlichen Interesse an physischer Zweisamkeit, erwächst mit zunehmender Erfahrung ein Nein zu gewissen Abenteuerreisen. Dem Mann wird dadurch die heikle Aufgabe zuteil, durch das Berühren der Frau an geeigneten Stellen deren Nein in ein Ja zu sublimieren. Angenehme Überraschungen sind dabei nicht zu erwarten, entsprechend erfolgen spätere zufällige Begegnungen mit gesenktem Kopf. Der Generation Meese macht das nichts aus. Sie kann sich Freundschaft vorstellen, die Befriedigung ihrer körperlichen Bedürfnisse erfolgt über elegante Bekanntschaften der temporären Art, deren große Gefühle die Metamorphose von der Sinuskurve des Herzens zur rektalen Befindlichkeit durchlaufen haben. Sie sind somit an den Geburtsort der Generation Meese zurückgekehrt. Vornehmlich rektal ist auch die Literatur Meese, die von Sümpfen handelt und der eigenen Suppe, in der es sich zwischen Fremdhaar vortrefflich mit dem Gesicht nach unten treiben lässt. Die Generation hat erkannt, dass vorhergehende Generationen, wie die Generation Stufenheck, ein fabelhaftes System hinterlassen haben, das das Aufkommen von Fragen von Vornherein absurd vorkommen lässt. Die Generation Meese reagiert darauf, indem sie nicht fragt und sich; somit prädestiniert für eine eigene Matrikelnummer, irgendwo einschreibt und solange dort bleibt, bis es kein Stipendium mehr gibt. Das Vorhandensein von Zeit ist das Privileg der Generation Meese. Von ihrem Arbeitslosengeld fliegt sie zum Schuhe kaufen nach Portugal, mit Anfang dreißig erfolgt der Übergang in die Invalidenrente.

Die Generation ist leger, Hemd, Schlüpfer, Sneakers oder Chucks. Sie hinterlässt keine Spuren, sie ist unauffällig oder liegt noch im Bett. Der Kühlschrank hat das Aussehen einer Badewanne voll kaltem Wasser. Er ist das entscheidende Ausstattungsdetail der seriellen Zwischenmiete der Generation Meese. Die Flüssigkeiten in ihm schwimmen mit aufgeweichten Etiketten unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Generation Meese bedarf keiner Öffentlichkeit. Sie genügt sich selbst, sie ist eine Generation der Bescheidenheit, die ihre Impulse aus Gesprächen bekommt, die sich ergeben wenn man eine Flasche Bier an einer anderen öffnet. Ein Abend der Generation Meese beginnt mit der Erkenntnis dauerhafter privater Insolvenz und der damit einhergehenden Feststellung, dass es erstaunlicherweise nach wie vor elektrischen Strom im Quartier Meese gibt, dessen Wände auch ohne Tapeten schön sind. Noch weniger als Tapeten, benötigt die Generation Meese Philosophie. Sie öffnet eine Flasche Bier an einer anderen. Sie trägt an diesem Abend einen lilafarbenen Eisschnelllaufanzug, sie ist barfuß, ein Auge schaut nach rechts, das andere nach links. Die Generation Meese ertanzt sich ihre eigene Ordnung, als es draußen längst wieder hell wird. Altbundeskanzler Schmidt erhält für sein unermüdliches Rauchen einen Bonus von vierhundertsechzig Punkten. Die Generation Meese raucht seit ihrem elften Lebensjahr, weibliche Mitglieder entsprechend länger. Das Rauchen hat nichts mit Zwängen, Kommunikationsbedarf, und Gruppendynamik zu tun. Es ist etwas Fundamentales, etwas notwendigerweise Vorhandenes, so wie es die Bewegung ist. Eine Generation ist nichts Gewolltes, man kann sie nicht erschaffen. Sie entsteht wie neues Leben, sie ist Unfall, sie ist Fügung. Sie ist nicht weniger, als die Frage nach dem Vornamen, am Morgen danach.

erschienen in der Tippgemeinschaft 2009

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