Olga Grjasnowa

HERRENLAUNEN

0.

Ich sitze auf der Fensterbank und rauche. Manchmal blase ich Ringe in die Nacht und stelle mir vor, wie der feuchtwarme Wind, der um meine Ohren weht und auch um mein Haar, das vom Schlaf noch ganz verlegen ist, wie dieser Wind irgendwo an der Chinesischen Mauer heranwächst, über die weite Steppe galoppiert und dann den Ural streift. Es ist windstill, die Straße unter mir riecht nach Regen und im Lichtkegel der Straßenlaterne schwirren Mücken. Mein Rauch trocknet auf der Leinwand.

–1.

Gestern Abend schlug Franz vor, nach Grönland zu gehen – für ein halbes Jahr, Hundeschlitten fahren oder so. Franz hatte seinen Mund auf meinem Bauch und fing an zu weinen, weinte in meinen Bauch hinein. Ich streichelte durch sein Haar. Krokodilstränen sammelten sich in meinem Nabel. Er schrie mich an und ich streichelte sein blondes Haar und er schrie und ich streichelte und er schlug und ich erstickte seine Schreie und spürte seine Kraft und hielt ihn fest.

–0.7.

Auf dem Laken vor mir waren Glieder, durcheinandergeworfen, schlafend, verspannt. Ich wollte mir Franz einprägen: seine Schultern, sein Schlüsselbein, sich scharf abzeichnend, Oberkörper, Rippen, sein Nabel und die fein gestochene Tätowierung an der Schulter, drei bunte Schmetterlinge, zusammen so groß wie meine Faust. Wärme kroch in meinen Magen.

–2.

Mein Vater war ein Warlord. Als die UdSSR zusammenbrach, war er Logistiker der Roten Armee und hatte den Schlüssel zum georgischen Waffenlager. Vater verhalf anderen zu ihrem Werkzeug, aber nur, bis das Lager sich leerte und Mutter abhaute. Vater trauerte, sprach kaum und kaufte sich die georgische Opposition. Wir bekamen politisches Asyl und eine Villa in Dresden.

–3.

Damals, mit sechs, spielte ich am liebsten Mutter, denn ich hatte auch das Recht zu trauern. Mutter war eine Tänzerin und so tanzte ich. Vater ließ mich auf die Palucca Schule und dort wurde ich zu einem Nijinsky oder zumindest zu einem Baryshnikov gemessen, gewogen, und gedrillt, und mein Körper wurde größer, männlicher und sehniger, aber rächte sich mit Schmerzen.

–4.

Ich lernte Jesper kennen, verliebte mich, und als Jesper ging, erfuhr ich, dass Liebe physische Schmerzen bereiten kann, und dann war ich erwachsen und.

–5.

In all den Jahren kultivierte der Westen meinen Vater, der aß nun mit Messer und Gabel, trank Gin, las die FAZ und Kunstlexika, stets von A bis Z, investierte in Hundezucht, dann in Tresore und schließlich in die große Kunst. Vater wurde Sammler und Mäzen und ich bestand eine Aufnahmeprüfung und ging nach Berlin.

–6.

An einem matschgrauen Tag vor vier Wochen stand meine Haustür sperrangelweit offen. Auf dem Wohnzimmerteppich lief Vater auf und ab. Er drückte seine Lippen auf meine Wange und klopfte auf meinen Rücken. Georgij Schewarzaschwili, Staatsbürger, es stehe doch da, sagte Vater und zeigte auf seinen Pass, er sei nun DEUTSCHER und als solcher wolle er sich es nicht länger gefallen lassen. Ich fragte nicht, was, kochte Tee, und als ich das massive Silbertablett mit Zucker, Milch, zwei Tassen, Gebäck und Datteln auf dem Wohnzimmertisch abstellte, fuchtelte Vater mit seinen Armen und brüllte, der Kunstmarkt sei kommunistisch. »Auf der ganzen Welt nicht! Und Wartelisten! Die nächsten fünf Jahre! Das ist Planwirtschaft! Das ist Kommunismus!« Vaters Bewegungen wurden ausufernder. »Möchtest du Tee?« Ich hielt ihm eine randvoll gefüllte Tasse vor die Nase. Er wehrte ab. »Kommunismus, Ivan, KOMMUNISMUS!« Ich zuckte mit den Schultern. Vater fragte, ob er sein Leben in der Opposition und für die Demokratie riskiert habe, um nun keinen Rauch kaufen zu dürfen. Vater war ein kleingewachsener Mann mit Bauchansatz und teuren Anzügen. Später werde ich ihm leider sehr ähnlich sehen. »Ivan, ich brauche ein Gemälde von diesem Rauch!« »Kannst du nicht einen anderen kaufen?« »Ivan! Ich sammle die Leipziger Schule, da komme ich um einen Rauch nicht herum.« »Ich kann dir aber nicht helfen.« Antwortete ich. »Noch nicht!« Vater riss das Fenster auf und sah hinaus, es schien, als ob er sich beruhigen könnte, würde er einen Baum sehen. Oder einen Vogel. Ein grüner Fleck hätte gereicht. Die Wohnung lag zur Straße. »Ich will, dass du mir einen Rauch besorgst.« »Wie?« »Umhören! Präsenz zeigen!« Vater spuckte auf die Straße und fuhr fort: »Ivan, ich bitte dich. Ich habe keine Zeit, ich muss in den Iran. Ein junger Mann wird dich abholen, aber bitte versuche nicht … Er heißt Viktor, begabt, Armenier, Pianist. Du weißt, ich habe nichts gegen Armenier.«

–7.

Viktor wartete am Gleis und machte Eindruck: bucklig, in kurzen Hosen, weißen Tennissocken und Römersandalen. Ein verschreckter Kleinstädter, dessen Finger sich an eine Männerhandtasche aus rotem Leder klammerten. Ich stellte meinen Koffer vor seinen Füßen ab. Er nahm ihn wortlos entgegen.

–8.

Viktor war Flötist. Vor vier Jahren kam er in einem Lastwagen voller Sanitäranlagen nach Deutschland. Die Flöte landete schnell beim Pfandleiher. Seitdem träumte Viktor ohne Instrument von der Musik und klempnerte ohne eine Aufenthaltsgenehmigung in ostdeutschen Toiletten. Das alles erzählte er mir, während wir tranken und ich die chinesische Nummer 46 aus Huhn, Kokosmilch, Reis, Ingwer und Cashewnüssen verschlang und noch bevor Viktor vorschlug, in ein Bordell zu gehen. Ich verstand immer weniger, wieso ich das alles tat.

–9.

Wir versuchten es in der Galerie EIGEN & ART, Lybke war zwar sehr nett, wollte aber keinen Rauch herausrücken. Ich telefonierte mit Sammlern, Galeristen und Pförtnern, doch nicht mal ein Kleinformat war zu haben. Später überredete ich einen mittelmäßig gebauten Kunststudenten, mir die Tür zu Rauchs Klasse aufzuschließen, aber bis auf ein Waschbecken und leere Bierkästen gähnte im Raum Leere.

–10.

Es blieb nur noch eins: in Rauchs Haus in Markkleeberg einzubrechen. Viktor wollte die Sache alleine erledigen. Irgendjemand hatte ihm irgendetwas erzählt, und nun beschwor Viktor Selbstzucht, Männlichkeit, Disziplin und Militär und wollte aus diesen Gründen einen archaischen Einbruch machen. Ich dachte zwar nicht, dass er es hinkriegen würde, aber ich hatte keine Lust auf Kooperation mit Vaters Bekannten. Außerdem würde Verantwortung Viktor gut tun.

–11.

Der Einbruch sollte vier Tage später stattfinden. Vor lauter Nervosität hörte Viktor auf zu essen. Am letzten Tag verzichtete er auf jegliche Flüssigkeitszufuhr, mit Ausnahme von Wodka. Viktor zitterte am ganzen Körper. Ich sagte ihm, es sei keine gute Idee, aber er ließ sich von jemandem wie mir nichts mehr sagen und schlug mir eine Therapie vor.

–12.

Die Leipziger Volkszeitung berichtete am nächsten Tag von einem Einbruch in Rauchs Haus. Das Künstlerehepaar Rauch/Loy sei zum Zeitpunkt des Überfalls nicht im Hause gewesen. Überhaupt habe der kaukasisch gerasster Einbrecher es nicht ins Haus geschafft, er sei bewusstlos im Vorgarten zusammengebrochen. Der Verbrecher sei ein illegal eingewanderter Wirtschaftsflüchtling und werde unverzüglich abgeschoben.

–13.

Von Viktors Entgleisungen erzählte ich Vater nichts. Ich hinterließ auf seiner Mailbox eine kurze Nachricht – Viktor habe sich entschlossen, in seine Heimat zurückzukehren. Danach aß ich Wassermelonen und verbrachte Zeit in Künstlercafés, wo ich trank.

–14.

An einem lauwarmen Abend ging ich zu einer Vernissage. Der Ausstellungsraum roch nach Farbe und altem Putz und war voller Menschen. Mir gegenüber lehnte ein Mann mit blondem Dreitagebart an der Wand und aschte auf den Boden. Das Gespräch ringsum ging an mir vorbei. Ich stellte mich zwischen zwei Leinwände. »Gefallen sie dir?« Der Bärtige stand nun neben mir. »Sind es Spatzen?« »Sperlinge.« Er streckte mir seinen Arm entgegen, auf der Hand war noch der Stempel eines Klubs zu sehen, der Arm war hell behaart, mit feinen Leberflecken und eintätowierten Vögeln. »Franz.« »Ivan.« Er hatte einen festen Händedruck. »Soll ich dich rumführen?«, fragte Franz. Beim Gehen hob er kaum die Füße.

–15.

Franz ließ mich einen Schritt vorgehen und tröpfelte Bemerkungen. Ganz beiläufig legte er seine Hand auf meinen Rücken, zwischen meine Schulterblätter, und ich war mir sicher.

–16.

Drei Tage später knallte die Sonne, es war heiß und stickig. Meine Haut klebte wie Tesa. An der Bordsteinkante vor dem Supermarkt saßen Männer und tranken. Das Regal mit den Milchprodukten blockierte ein nach Magersucht stinkendes Mädchen, das die Fettwerte einzelner Joghurtverpackungen verglich. Die sollte es mal mit Sport probieren. An der Fleischtheke mit abgepacktem Huhn stand Franz, barfuss und in Arbeitskleidung: weißes T-Shirt mit kleinen Löchern am Rücken und die Hose voller Farbflecke: mintgrün, nachtblau, glutrot.

–17.

Drei Viertel für ihn und eines für mich – das machten wir aus, als er am nächsten Morgen im Schneidersitz auf meinem Bett saß. Weder ein »Wieso« noch ein »Davor«. Sein Kaffeebecher stand auf dem Nachttisch. Ich probierte Schuhe an, weiß, mit einem weißen Hemd, dazu eine Sonnenbrille mit weißer Fassung. Als Franz seinen Becher umwarf, suchte ich nach Tabak. Die braune Flüssigkeit ergoss sich über das Weiß meiner Hotelbettwäsche. Einige Tropfen rannen über seinen Handrücken.

–18.

In Museen, Kunstvereinen und Galerien suchten wir nach Originalen. Stunden, Tage und Nervenstränge gegen Bilder, für Nuancen und Schattierungen. Franz kroch und kniete und notierte und malte ab. »Ich könnte es malen«, meinte er schließlich in einem Café, als unsere Körper sich zusammen über Rauchs Monografien beugten und unsere Kleidung sich berührte. In dieser Nacht rief ich Vater an und sagte, dass er sein Bild bekommen würde.

–19.

Unser Atelier hatte hohe Fenster und von der Decke hingen zwei Reihen Neonröhren. Überall waren bunte Flecken, Spiegel, Farbeimer und Plastikteller für das Mischen. Franz vertiefte sich in seine Notizen. Diesen folgten Vorstudien: Landschaften, Figurengruppen, Gesichter und Hände. Ich machte mir Sorgen, denn ich habe gelesen, dass Rauchs Bilder direkt auf der Leinwand entstanden. Franz spannte die Leinwand auf und präparierte das Gewebe mit einer Knochenleimlösung. Das Weiß in seinen Augen schimmerte um die schwarze Iris.

–20.

Ich tanzte mit Franz und meine Ohren glühten. Ich stand für ihn Modell. Wenn er malte, glitt sein Blick asexuell über mich hinweg, zu meinem Hals oder einem Bein. Sein Atem war warm und unregelmäßig und versprach mir schönen Sex. Ich versuchte, die Verliebtheit von meinem Körper zu waschen, erst warm, dann kalt, wieder warm, und dann versuchte ich, Franz zu verführen. Ich kaufte Blätterteig, Lachs, Kaviar und roten Sekt, streifte durch die Feinkostabteilungen, machte Sushi, und nachdem ich den ganzen Tag lang gekocht hatte, saß er am Tisch, seine Kleidung war durchgeschwitzt, und er lächelte und klatschte vor lauter Freude in die Hände und rief: »Das Leben ist so gut zu uns!« Und eines Morgens überraschte er mich mit einem Strauß, und ich war bereit zu triumphieren, hatte aber keine Gelegenheit dazu.

–21.

Gestern Abend war der Rauch fertig, musste nur noch trocknen. Franz und ich saßen vor der Leinwand, beide in gleicher Körperhaltung, die Knie hochgezogen und die Köpfe mit den Händen abgestützt. Neben uns eine Flasche Cognac und zwischen uns kein Wort. Manchmal drang die Stimme eines Passanten zu uns hoch, ich dachte an den zärtlichsten Punkt und wir tranken abwechselnd, denn die Flasche war groß und billig. Und.

–22.

Ein Hochformat, Innenraum einer Fabrikhalle, eine große Fensterfront, grüne Nacht. Im Vordergrund ein Mann. Er sah mir ähnlich, sogar sehr, stand mit einem blauen Hollandrad in der Mitte einer Fabriketage und schlug nach Mücken. Ich hätte mich aus der Farbe herausgewölbt, sagte Franz und schlug vor, nach Grönland zu gehen. »Es geht so nicht.«, antwortete ich, denn Vater hätte uns dieses Bild nicht abgenommen. Die Ähnlichkeit war zu groß. Franz küsste mich vorsichtig auf den Mund und ich hielt ihn fest, biss in seinen Hals, öffnete seine Hose. Franz versuchte, sich loszumachen, aber ich gab nicht nach. Dann ging es doch, Franz war einverstanden und weinte hinterher in meinen Bauch hinein.

1.

Ich lag wach und zählte schwule Ballerinas. Dann wollte ich rauchen und setzte mich auf die Fensterbank. Manchmal blies ich Ringe in die Nacht. Ich stellte mir vor, wie der feuchtwarme Wind, der um meine Ohren wehte und auch um mein Haar, das vom Schlaf noch ganz verlegen war, wie dieser Wind irgendwo an der Chinesischen Mauer heranwuchs, über die Steppe galoppierte - und den Ural streifte. Franz erwachte und starrte auf die Zimmerdecke. Ein wenig später richtete er sich auf, zog die Knie an, schwieg. Dann sagte er langsam und überartikuliert: »Ich bin nicht schwul.« Und ich dachte, ich sollte mich fallen lassen, mich einfach nach hinten fallen lassen.

erschienen in der Tippgemeinschaft 2008

Titelbild