Isabel Fargo Cole



Schwund



Nana Emma hatte keine Ahnung, wer Sylvie war, ließ es sich aber nicht ansehen. Dazu war sie viel zu höflich.

„Ich bin deine Enkelin“, behauptete Sylvie. Man sagte Nana die Wahrheit, das hatten Sylvies Eltern ihr vorhin, im Taxi vom Flughafen, wieder ans Herz gelegt. Daß sie dabei das Gefühl haben würde, zu lügen, hatte sie nicht geahnt.

„Na so was!“ Nana staunte umsichtig, als wäre Sylvie ein hübsches aber nicht ganz koscheres Mädchen, welches der Sohn nun vorstellte. „Ich hätte dich gar nicht wiedererkannt. Du hast wohl ganz schön abgenommen. Darf ich dir noch etwas Suppe anbieten? Sonst jemand?“

„Setz dich bitte, Mutti. Heute abend bist du bei uns zu Gast.“

„Die Suppe habe ich allerdings nach deinem Rezept gemacht.“ Sylvies Mutter stand schon mit dem Suppentopf da. „Tolles Rezept!“

„Danke. Ich gebe es dir gern. Denk’ dran, bevor du gehst.“ Nana blickte kritisch in den Suppenteller. „Heute ist wohl nicht mein Tag. Meine Knödel sind ganz unförmig.“

„Ein herber Schlag für dich“, flüsterte Sylvies Vater ihrer Mutter zu.

Sie versetzte ihm heimlich einen Fußtritt. „Von wegen. Ein neuer Schwiegermutterwitz.“

Nana starrte zum Fenster hinaus und ignorierte das Getuschel.

Sylvie blickte benommen in die Runde. Ihr war, als wäre sie nicht nur acht Stunden, sondern ein Jahr und drei Monate in der Luft unterwegs gewesen. Sie war aber auch nicht die einzige. Ihre Eltern waren verändert, das war ihr schon vorhin im Taxi aufgefallen: aufgekratzt, begriffsstutzig, mit den Gedanken ganz woanders. Bei ihnen kreiste das Gespräch verbissen scheinbar um Details, eigentlich jedoch um Lücken. Manchmal überfiel sie eine befremdliche Heiterkeit, als würde ihnen das ganze Elend auf einmal klar vor Augen stehen. Sylvie hat es nun begriffen: drei Mal in der Woche war Nana bei ihnen zu Gast, und Alzheimer war in der Tat ansteckend.

Sylvies Vater lenkte Nana wieder von den Parkbäumen ab. „Sylvie lebt jetzt in Deutschland“, sagte er.

„Die junge Dame? Wie schön. Wo denn?“

„In Berlin.“

„Und deine Eltern haben dich ganz allein zu uns nach New York fliegen lassen?“

„Das sind meine Eltern. Ich bin deine Enkelin.“

Hinter ihrem Rücken hatte sich alles verändert. Es war das erste Mal. Bisher war sie wiedergekommen und alles war beim Alten geblieben. Jetzt lag das Wohnzimmer im gelblichen Schein einer neuen Lampe und die Katze Blackie war tot. An dem Blick aus dem Fenster – über die Dächer hinweg zum fernen Glanz des Hafens – fehlte nichts als der Rauch und die Asche.


„Wie hast du eigentlich letztes Jahr Weihnachten verbracht?“ fragte Sylvies Mutter. Sie knieten vor den Kartons mit dem Weihnachtsschmuck und sortierten die häßlichen Holzengel aus, Erbstücke, auf die Nana immer bestanden hatte und von denen Sylvie als Kind immer schlecht träumte. „Hallo? Sylvie?“

„Ich habe gerade nachgedacht. Habe ich nicht. Ich habe Weihnachten gar nicht verbracht. Ach so, ich bin ausgezogen.“

„Zu Weihnachten?“

„Glaube ich.“

Ihre Mutter sah sie prüfend an. Das hieß: Wenn du willst, mache ich mir Sorgen. Aber nur, wenn du willst.

Sylvie wußte das. Sie sagte nichts.

„Ja, das war auch um die Zeit, als wir Nana ins Heim brachten. Es war sowieso kein besonders fröhliches Weihnachten. Aber als gute Atheisten hatten wir immerhin einen Baum.“

Nana lobte den Weihnachtsbaum und sah großzügig über die fehlenden Engel hinweg. Zu viert saßen sie um den Eßtisch und schmückten Weihnachtsplätzchen, eine Tradition, die nur letztes Jahr ausgefallen war. Sylvie hatte wie jedes Jahr einen Krampf im Magen von den vielen angebrannten Plätzchen und in Erwartung der Jahresbilanz. Seit sie denken konnte, hatte Nana immer diese Gelegenheit genutzt, Erfolg, Konflikt und Versagen unter die Lupe zu nehmen und eine Familienstrategie für das nächste Jahr zu entwerfen. Oft ging es um Sylvie.

Sylvies Eltern hatten sie nie unter Druck gesetzt. Was sie auch machte, es war ihnen recht. Das war ihre Auflehnung gegen die ältere Generation, die Tyrannin, die sie als „Nana“ verniedlichten. Sylvie ihrerseits lehnte die Laschheit ihrer Eltern ab und erhob Nana zur letzten Instanz. Nun, wo sie geschlagen angekrochen kam, würden ihre Eltern feinfühlig von ihrem Scheitern absehen. Sie wartete ängstlich und ungeduldig darauf, von Nana ausgeleuchtet zu werden. Was ist mit Hannes? Wolltet ihr nicht heiraten? Und dein Studium? Wenn ich mich richtig entsinne, hast du das alles hingeschmissen, um „an deinem Roman zu arbeiten“ oder – wie hieß es? „um dir Klarheit zu verschaffen“. Und? Hat es was gebracht? Hast du dir Klarheit verschafft? Nicht? Was ist hier schiefgelaufen? Wir nehmen das alles mal Schritt für Schritt durch…

Tatsächlich aber blieb das Gespräch an den Kamelen und Elefanten der Plätzchenkarawane hängen, eine Endlosschleife. Was hatte Sylvie denn erwartet? Seit zwei Jahren schon war sie über Nanas Gedächtnisschwund bestens informiert. Vor dem 11. September wollte es niemand wahrhaben. Das ging dann nicht mehr. Jeden Abend kamen Sylvies Eltern von der Arbeit und hörten den Anrufbeantworter ab, da war zwanzigmal Nanas Stimme, tränenerstickt, die Zwillingstürme brennen, die Zwillingstürme stürzen ein. Immer, wenn die Bilder im Fernsehen kamen, geriet Nana in Panik und rannte zum Telefon. Grandpa Jack war überfordert. Eines Abends entsorgte er heimlich den Fernseher. Er war Konfrontationen schon immer ausgewichen. Noch im Oktober starb er. Sie mußten es Nana immer wieder sagen. Sie glaubten nämlich, ihr die Wahrheit sagen zu müssen, damit sie trauern konnte, schön war es trotzdem nicht. Sylvies Eltern machten Witze darüber: „Ja, Mutti, Vater ist immer noch tot.“ Es war, als würden sie sich damit für die ganzen panischen Nachrichten rächen. Aber sie hatten das Richtige getan. Mit der Zeit dachte Nana zwar immer noch, daß Grandpa lebte, aber sie nahm seinen Tod jedesmal gelassener hin. In der fremden Umgebung des Pflegeheims litt sie zunächst noch unter Panikanfällen, bis die richtige Medikamentenmischung gefunden wurde. Nana machte sozusagen das Beste aus der Situation. Sie hatte schon immer Charme besessen, nun besaß sie nur noch Charme. Zum ersten Mal hatten Sylvies Eltern reine Freude an ihr. Sie ließen sich gern auf diese gesprungenen Gesprächsschleifen ein, sie lebten auf, als hätte jemand ein unangenehmes Thema gewechselt.

Sylvie war die einzige an diesem Tisch, die nicht glücklich war. Sie hatte immer gemeint, Nana besser als alle andere zu kennen, aber Nanas Panik und Trauer hatte sie nicht gekannt. Sie war nicht dabeigewesen. Wenn sie dabeigewesen wäre, hätte sie vielleicht genau das Richtige gesagt. Nun konnte sie Nana keinen unerwarteten Trost mehr bieten. Nana erwartete nichts und mußte nicht mehr getröstet werden. Nana wollte überhaupt nichts von Sylvie. Sie täuschte höfliches Interesse vor, wie sie es für jede junge Frau getan hätte, über die sie Gutes gehört hatte. Wenn sie Deutsch gesprochen hätte, hätte sie Sylvie gesiezt.

Nana machte makellose Schnörkel aus Zuckerguß, den Buntzucker verteilte sie flink mit sicherer Hand, sie war wie immer unschlagbar. Über siebzig Jahre Übung. Wie konnte sie das nur behalten und alles andere loslassen? Wie konnte sie teilnahmslos zuschauen, als Sylvie den Zuckerguß breit wischte, den Zucker verschüttete, als die Plätzchen eins nach dem anderen in ihren Händen zerbrachen?

Dann würde Sylvie Nana ebenfalls ignorieren.


Vielleicht wollte sie Nana doch nicht trösten, überhaupt nicht. Sie wollte sagen: Nana, ich glaube, ich verliere langsam den Verstand. Denn Nana war die einzige, die das schockiert hätte. Weißt du, Nana, jede Nacht, wenn ich fast eingeschlafen bin, schrecke ich wieder hoch, als ob ich etwas vergessen hätte. Ich liege da mit rasendem Puls und überlege mir, was es sein könnte. Es wird Krieg geben. Hannes ist weg. Grandpa ist weg. Blackie ist weg. Die Zwillingstürme sind weg. Das weiß ich alles schon. Das ist doch kein Grund, mich mitten in der Nacht aus dem Schlaf zu reißen. So läuft das schon seit über einem Jahr. Im Grunde ist das auch das einzige, was ich über diese Zeit noch weiß, daß ich sehr schlecht geschlafen habe. Ich kann mich an keine Szene mehr erinnern, außer der mit dem Birnbaum.


Im März 2002 gab es in Berlin einen ganz unnatürlichen Sturm. Das Tageslicht ging aus, ging an, die ganze Wohnung zog plötzlich den Atem ein, und Sylvie ging zum Fenster, um zuzuschauen. „Schau, Moses“, sagte sie dem Kater, der sowohl Hannes als auch Blackie ersetzt hatte. Ungeheure graue Wolken jagten über dem blauen Himmel und wuchsen dabei wie Explosionen. Der alte Birnbaum im Hinterhof, so groß wie das Haus, bückte sich und machte ungewohnte Gesten. Sylvie spürte so etwas wie aufflackerndes Interesse. Einige Minuten schaute sie noch zu, dann setzte sie sich wieder an den Computer. Auf einmal war der Raum von Licht gefüllt. Sie wußte, ohne sich umzudrehen: der Birnbaum war lautlos gefallen.


Am Heiligen Abend trank Nana einen Schluck Sekt mit, das hätte nicht sein sollen. Sie starrte den Weihnachtsbaum an.

„Er wächst, aber wie!“ sagte sie.

„Hm. Wie beim Nußknacker?“

„Ja. Aber… das sieht wirklich ganz schön gefährlich aus. Habt ihr die Situation auch wirklich im Griff? So etwas im Wohnzimmer…“ Sie erstarrte, fest entschlossen, dem aufragenden Baum nicht zu weichen.

Sylvies Vater zog sich den Mantel an. „Tja, langer Tag gewesen. Du bist wohl schon ziemlich müde. Ich bringe dich jetzt nach Hause.“

„Sie ist gerade von Bäumen besessen“, erklärte Sylvies Mutter. „Sie denkt, die sind unheimlich groß, oder komisch geformt. Sie findet, die Straßenbäume sollten alle beschnitten werden, damit die Äste uns nicht noch durch die Fenster herein wachsen. Vor allen Dingen hat sie Angst, daß sie umfallen könnten…“

„Aber das gibt es auch wirklich“, sagte Sylvie. „Bäume fallen wirklich um. Der Birnbaum bei uns im Hinterhof. Da kommt so ein Sturm, und er kippt einfach weg.“

Nana warf ihr einen Blick zu, doch darin war nichts, er hieß nicht, daß sie verstanden hatte.


Nach den Feiertagen sah Sylvie wenig Grund, ihr Zimmer zu verlassen. Eigentlich mußte einem das Kinderzimmer immer kleiner vorkommen, es kam ihr aber größer vor. Sie ließ ihre Kleider auf den Fußboden fallen, bis er vollkommen bedeckt war. Die letzten Male war Hannes mitgewesen. Als er da war, mußte sie nicht tun, oder wußte nicht, daß sie tun mußte, was sie jetzt tat: jede Schublade durchsuchen, jedes Buch, jedes Heft lesen, um den Faden wieder zu finden. Es war zum Verzweifeln. Was hatte sie eigentlich vorgehabt, worauf hatten sie ihre ganzen übertriebenen Hoffnungen gesetzt? In dem einen Herbst hatten alle plötzlich vergessen, was sie vorhatten. Sie vergaß, was sie mit Hannes, er, was er mit ihr vorhatte. Alles stob, alle stoben auseinander.

Sylvie fand den Faden nicht. Doch wenn sie sich lang genug im Zimmer aufhielt, wenn sie lesend am Fenster saß, wurde es kleiner und näher und das Zimmer in Berlin wurde größer und näher und es war ein und dasselbe Zimmer: draußen stand kein Birnbaum. Manchmal fuhr sie auch nach Manhattan, traf sich mit alten Freunden, aß chinesisch, aber nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte, nicht im Wiederentdeckungsrausch. Es war, als wäre sie die ganze Zeit dagewesen. Sie mußte nicht unbedingt noch eine Straße weitergehen, sie wußte schon, was da war. Nur das, was nicht da war, wußte sie nicht mehr. Als sie das erste Mal in Manhattan aus der U-Bahn stieg, Union Square, schaute sie bang nach Süden, um den ersten Blick dessen zu erhaschen, was nicht mehr da war. Sie schaute immer wieder hin, bis ihr klar wurde, daß sie es wohl die ganze Zeit schon sah, der ganze Himmel über die Spitze von Manhattan stand leer. Du hast nie wirklich darauf geachtet, hätte Nana gesagt, sonst würdest du die Lücke sofort erkennen. Um es endgültig zu wissen, hätte sie wohl hingehen müssen, zum Ground Zero. Allerdings kannte Sylvie niemanden, der dorthin ging. Soweit sie wußte, gab es dort nichts zu sehen.


„Wenn du nichts Besseres zu tun hast, könntest du Nana Dienstag zum Hausarzt bringen, damit ich es nicht in der Mittagspause machen muß.“ Sylvies Mutter klang leicht vorwurfsvoll. Vielleicht dämmerte es den Eltern, daß Sylvie, wenn sie sich in ihrem Zimmer sperrte, doch nicht an ihrem Roman arbeitete. Selbst ihre Eltern hatten sie durchschaut. Das verhieß nichts Gutes. Oder doch. Es war gerade die Zeit, da versagten alle, sie konnten sich nur gegenseitig enttäuschen, und das wiederum verband sie.

„Sylvie? Reiß dich zusammen.“

„Ja. Danke. Gut. Wann hat sie noch mal den Termin?“


Es war sonnig und mild, sie liefen die paar Straßen zu Fuß. Nana trug ihre hellblaues Kostüm und einen Hut und sah glänzend aus. Sie hakte sich bei Sylvie ein und ging mit flotten Schritten. Sylvie war gelähmt vor Angst. Egal, ob sie rechts oder links von Nana ging, auf der anderen Seite war Panik und Trauer. Sie konnte Nana davor nicht schützen, sie konnte sie nur in Bewegung halten. Es war wie Jonglieren, man mußte ein Objekt am Abstürzen verhindern, das Objekt allerdings war Nanas Seele. Da hatten Sylvies Eltern schon den Dreh heraus. Aber wie sollte man die Konversation in Gang bringen? Man konnte nicht einmal fragen, was Nana zu Mittag gegessen hatte.

Nana kam Sylvie zu Hilfe, so wie sie, die perfekte Gastgeberin, sich immer um schüchterne Gäste gekümmert hatte, bis sie gesprächig wurden und sich wohlfühlten.

„Was sind das für schöne Bäume! Hilf mir doch, wie heißen sie denn?“

„Kirschbäume.“

„Und sie blühen gerade. Es muß wohl Frühling sein.“

„Es ist Januar, aber es gibt auch Winterkirschen.“

„Wie hübsch, diese rosafarbenen Blüten. Was werden das wohl für Bäume sein? Jack weiß es bestimmt.“ Sie tätschelte Sylvie die Hand. „Wir fragen Jack mal. Treffen wir ihn heute eigentlich zum Mittagessen?“
Das wäre beim Goldenen Drachen. Grandpa würde sich eine lange Mittagspause gönnen und Sylvie die Kirschen aus seinen Cocktails geben. Er mußte sie ihr unter dem Tisch reichen weil sie, laut Nana, alkoholhaltig waren. Sylvie wollte sagen, Grandpa Jack ist tot. Aber ihr fehlte jegliche Überzeugung. Gut, dann war Grandpa eben nicht tot. Das war Sylvie auch recht.

„Morgen“, sagte sie.

„Es ist jedenfalls ein herrlicher Tag für einen Spaziergang. Schau dir bloß die Bäume an.“ Sie hielt inne und reckte den Hals. Bäume gehörten nicht zu den Dingen, auf die Nana früher geachtet hatte. Ihr ganzes Leben lang hatte sie nur die Dinge bemerkt, die ihr logisch erschienen, und das war vieles. Bäume waren nicht logisch, und auf einmal waren sie überall. „So einen großen Baum habe ich noch nie gesehen! Was denkst du, wie viele Äste er hat? Eins, zwei, drei…“

Nach der Untersuchung, da Nana noch ganz fit schien, ging Sylvie mit ihr einen Umweg über die Uferpromenade. Als sie die Promenade betraten, traf Sylvie ein Lichtflut wie damals, als der Birnbaum gefallen war.

„Schau mal, Nana.“ Sie gingen ans Geländer. Auf der anderen Seite des Flusses ragte die Spitze von Manhattan auf wie der Bug eines sinkenden Schiffes, der vor kaum auszumachendem Leben wimmelte. Sylvies Hand ruhte sanft und fest zwischen Nanas Schultern und zwang sie hinzuschauen. Nana sah angestrengt hin, sie spürte wohl, daß diesmal Sylvie sie prüfte. Was fehlt? Was stimmt nicht an diesem Bild? Dann lächelte sie und drückte Sylvies Hand.

„Diesen Blick habe ich immer genossen“, sagte sie. „Ich war hier öfters mit deinem Vater spazieren, als wir verlobt waren.“

Also war alles in Ordnung. Die Türme waren nicht gebaut, Sylvies Vater war nicht geboren und Sylvie also auch nicht.

„Was für ungewöhnliche Bäume. Die ganzen Äste. Mal sehen, ob ich sie zählen kann. Eins, zwei, drei…“


Sylvie wußte, daß sie draußen warteten, sie war aber mit den Gedanken ganz woanders. Sie stand am Fenster und versuchte zu raten, welche Jahreszeit es war. Der Himmel war grau, die Bäume waren kahl, die Blätter lösten sich auf dem Pflaster auf. Es hätte Spätherbst sein können – oder Frühjahr. Dieses Ratespiel spielte sie oft, immer, wenn sie von ihrer Arbeit oder ihrer Lektüre aufblickte und nicht wußte, in welchem Monat sie sich gerade befand. Es war anstrengend. Ab jetzt wollte sie sich diesem Spiel verweigern. Sie wollte in diesen Momenten ausharren, so lange, wie es nur ging.

Sie zog sich langsam an. Draußen warteten sie, ihre Eltern, Hannes.

„Sylvie!“ rief ihr Vater. „Das Taxi ist da.“

Sylvie nahm ihre Koffer und verließ das Zimmer.




Isabel Fargo Cole wurde 1973 in den USA geboren und lebt seit 1995 als freie Übersetzerin (u. a. Wolfgang Hilbig, Hermann Ungar) und Autorin in Berlin, wo sie 2006-2007 die Literaturzeitschrift "lauter niemand" mit herausgab und seit 2006 "no man's land" (www.no-mans-land.org.) leitet, die Onlinezeitschrift für neue deutsche Literatur auf Englisch. Prosaveröffentlichungen u. a. in "Lose Blätter", "Laufschrift", "Lichtungen" und "Das Magazin", zuletzt in der aktuellen Ausgabe von "Um[laut]"; 3. Platz beim Literaturpreis Prenzlauer Berg 2009.